Transperson über Outing in der Finanzbranche „Ich bin frei und ich habe das Leben“

Emilia Rüttinger von der Meag:

Emilia Rüttinger von der Meag: „In einigen Bereichen der Finanzbranche ist die Chance, die sich aus Diversität und Inklusion ergibt, noch bei weitem nicht ausgeschöpft.“ Foto: Meag / Privat

private banking magazin: Im Februar 2023 haben Sie unserem Verlag gemailt und gebeten, Fotos und Ihren Deadname aus alten Artikeln zu entfernen. Ein Deadname ist nicht jedem – inklusive mir – ein Begriff. Können Sie Ihre Geschichte dazu erzählen?

Emilia Rüttinger: Deadname bezeichnet den Namen, den eine Transperson vor Ihrer Vornamens- und Personenstandsänderung hatte. Als Transperson habe ich diesen Namen stets ungern gehört und gelesen, da er mich im falschen Geschlecht benennt. Insofern bin ich froh, wenn ich ihn nicht mehr sehen muss. Mit den ebenfalls ansgesprochenen Bildern von vor meiner Transition ist auch ein gewisses Unwohlsein verbunden, denn sie erinnern mich an eine Zeit meiner Behinderung. Damals hat mein Körper nicht zu dem Geschlecht gepasst, in dem ich im Kopf geboren wurde. Ich zeige heute jedoch vereinzelt Vorher-Nachher-Bilder in Foren für betroffene Personen. Damit mache ich ihnen Mut und zeige, dass eine Transition auch im höheren Alter gelingt und dass es nie zu spät ist, sich zu befreien und die authentische Identität zu leben. Ich selbst habe bis kurz vor Ende meiner Transition nicht daran geglaubt. Daher ist es extrem wichtig, anderen Mut zu machen. Und wenn ich das mit alten Bildern schaffen kann, zeige ich sie in einem solchen Kontext auch gerne.

Sie haben ihre Transition hinter sich, arbeiten bei der Meag inzwischen als Spezialistin für Diversität, Equity und Inklusion. Was genau bedeutet das?

Rüttinger: Ich beschäftige mich mit den unterschiedlichen Dimensionen von Diversität der Menschen in unserer Firma. Zu diesen Dimensionen zählen Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft, Kultur oder Sprache aber auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und denen der LGBTQIA+-Community. Es geht darum, den Menschen gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen und gleiche Chancen in der Berufswelt zu ermöglichen. Es sind sehr unterschiedliche Maßnahmen für die entsprechenden Gruppen notwendig. Letztlich müssen diese Maßnahmen auch sehr individuell gestaltet werden, da jeder Mensch verschiedene Diversitätsmerkmale aufweist. Und das versteht man im Englischen unter Equity.

„Es geht darum, den Menschen gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen und gleiche Chancen in der Berufswelt zu ermöglichen“

Im Rahmen von Inklusion beschäftige ich mich damit, Rahmenbedingungen für ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem jeder sich frei in seiner authentischen Identität zeigen und seine Stärken entfalten kann. Gleichzeitig soll sich jeder zugehörig und gewollt empfinden. Das alles bedeutet einen Zugewinn für die gesamte Organisation: Diverse Teams sind nachweislich deutlich erfolgreicher, da sie verschiedene Wahrnehmungs- und Denkweisen vereinen und bessere Entscheidungen fällen. Inklusion und das Zugehörigkeitsgefühl sind ein ebenso starker Motor für Entfaltung, von dem alle profitieren. Menschen, die ihre Identität nicht verstecken müssen, sind gesünder, leistungsfähiger und kreativer. Das alles entwickele ich zusammen mit meinen Kolleg*innen aus dem Bereich Human Ressources. Darüber hinaus beschäftige ich mit den Themen Wellbeing und Health.

 

Heruntergebrochen auf ein Mantra, eine kleine Mission: Was möchten Sie erreichen?

Rüttinger: Ich möchte etwas von der Hilfe an die vielen Menschen zurückgeben, die mir in meiner schwierigen Zeit der Transition geholfen haben, mich ermutigt und unterstützt haben. Auf meinem Weg ist mir bewusst geworden, wie viele Menschen es doch gibt, die die Not anderer erkennen und selbstlos helfen. Dies hat mein Weltbild nachhaltig verändert. Mein Ziel habe ich erreicht, wenn ich die Bedingungen für gleiche Chancen und Inklusion positiv verändert und ein Umfeld mit gestaltet habe, in dem sich Menschen in ihrer wahren Identität zeigen können und wohlfühlen.

Welche Bedeutung hat Kommunikation und Vertrauen in Ihrer Rolle?

Rüttinger: In der Tat ist Vertrauen eine zentrale Voraussetzung für positive Veränderungsprozesse. Diversität, Equity und Inklusion kann man Organisationen nicht verordnen. All das funktioniert nur, wenn Menschen den Mehrwert von Diversität und Inklusion für alle selbst erkennen. Dabei gilt es, sich unbewussten Vorurteilen bewusst zu werden, Ängste zu nehmen, Dialog zu fördern und viel zu erklären. Das setzt Vertrauen voraus.

„Aus meiner persönlichen Erfahrung als Trans*-Person in einer Firma kann ich sagen, dass Kommunikation und Vertrauen eng miteinander verwoben sind.“

Wie ist Ihre persönliche Erfahrung dazu?

Rüttinger: Sehr positiv. Denn ich nehme wahr, dass sich viele Menschen für eine Veränderung begeistern und daran mitwirken möchten. Das zeigt sich etwa an tollen Initiativen aus den selbstinitiativ gestalteten Employee Resource Groups bei uns. Dazu zählen das Frauennetzwerk, die Netzwerke der LGBTQIA+-Community oder für Menschen mit Behinderungen. Diese Netzwerke tragen einen maßgeblichen Einfluss zur positiven Veränderung bei und werden durch Human Ressources unterstützt. Wichtig ist mir dabei ein holistischer Ansatz, denn es gilt Lösungen zu schaffen, die allen Mitarbeiter*innen helfen.

Emilia Rüttinger vor der Transition.

Das klingt abstrakt. Können Sie ein Beispiel nennen?

Rüttinger: Beispielsweise übernehmen immer mehr Männer Rollen in der Familie zur Kinderbetreuung. Das zeigt deutlich, dass man eine Lösung nicht nur auf ein Diversitätsmerkmal wie etwa Gender abstellen darf. Hier bedarf es intensiver Kommunikation, um die Bedürfnisse aller zu erkennen und das Vertrauen für Veränderung zu schaffen. Wichtig ist aber auch die Kommunikation zur Außenwelt, wie etwa zu den Netzwerken anderer Firmen in der Industrie. Schließlich lernen wir alle voneinander und können uns so perfekt unterstützen. Aus meiner persönlichen Erfahrung als Trans*-Person in einer Firma kann ich sagen, dass Kommunikation und Vertrauen eng miteinander verwoben sind.

So habe ich festgestellt, dass Distanz oder Zurückhaltung in den allermeisten Fällen gar nichts mit Ablehnung zu tun haben. Sondern mit Ängsten, die Menschen haben. Sie wollen nichts Falsches sagen oder etwas tun, was mich verletzen könnte. Hier hat es mir sehr geholfen, offen mit meiner Geschichte umzugehen und zu erklären, dass man nichts falsch machen kann. Ich kann Fragen offen beantworten. Letztlich habe ich ja auch nichts zu verstecken, denn ich bin so geboren. Der offene Umgang mit meiner Transidentität hat viele Türen geöffnet und tolle Beziehungen entstehen lassen.

Wobei die Finanzbranche nicht gerade als Vorreiter in Sachen Inklusion, Gleichberechtigung und Diversität gilt. Ist die Finanzwelt überhaupt in der modernen und pluralistischen Welt angekommen?

Rüttinger: Sie ist in Deutschland auf einem guten Wege dahin. Nach meinem Outing im Frühjahr 2021 in meiner Firma – und kurze Zeit später ganz öffentlich auf Linkedin – habe ich sehr viel positives, unterstützendes Feedback bekommen. Wenige Jahre vorher wäre es als Transperson noch ganz anders gewesen. Ich hätte womöglich berufliche oder soziale Konsequenzen befürchten müssen. Meine Firma hat mich auf meinem Weg stark unterstützt.

Inwiefern?

Rüttinger: Als Transperson in meinem Alter bedarf es einer Vielzahl medizinischer und psychologischer Unterstützungen und intensiven mehrfachen operativen Eingriffen. Mir wurde ermöglicht, diese vorzunehmen und gleichzeitig meine verantwortungsvolle Rolle im Beruf weiter auszuüben. Dafür bin ich sehr dankbar. Allerdings sind wir in der Finanzwelt im Bereich LGBTQIA+, aber auch in allen anderen Diversity-Dimensionen wie Geschlecht, Generation, Menschen mit Behinderungen oder Ethnicity noch lange nicht da wo wir sein könnten oder sollten. Vor allem im internationalen Kontext gibt es Länder, in denen Chancengleichheit und Inklusion nicht so stark entwickelt sind. Teilweise steht eine LGBTQIA+-Zugehörigkeit sogar unter Strafe. Gerade bei international agierenden Firmen der Finanzbranche muss das beachtet werden, wenn es um Geschäfte in diesen Ländern oder die Interaktion mit Kunden geht.

 

Kann die Internationalität der Branche auch ein Vorteil sein?

Rüttinger: Ja absolut, denn Internationalität ist eine Diversitätsdimension und kreiert den Vorteil gegenseitigen Lernens und besserer Entscheidungen durch unterschiedliche Denkweisen, kulturelle Entwicklungen und Erfahrungen. Davon können gesamte Organisationen massiv profitieren. Allerdings stellt Internationalität – wie bereits erwähnt – auch eine Herausforderung dar: Um Inklusion und Zugehörigkeit zu kreieren, bedarf es vieler guter Schritte. Sprachbarrieren oder Voreingenommenheit gegenüber Unbekanntem müssen überwunden, die regionalen Bedürfnisse in verschiedenen Ländern berücksichtiget werden. So mag die Unterstützung zu einem Outing in Europa inklusionsfördernd sein, während ein solches Bekenntnis in einem anderen Land zu Ausgrenzung oder gar Bestrafung führen kann. Insofern müssen alle Maßnahmen stets individuell und sehr abgewogen zum Schutze der oder des Einzelnen erfolgen. Die Welt ist in Bezug auf Diversität sehr unterschiedlich entwickelt und dies gilt es zu berücksichtigen.

Wo gibt es in der Finanzbranche noch Defizite?

Rüttinger: Ich würde hier lieber das Wort Potenziale verwenden. Denn: In einigen Bereichen der Finanzbranche ist die Chance, die sich aus Diversität und Inklusion ergibt, noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Ich habe etwa die meiste Zeit meines beruflichen Lebens im Portfoliomanagement verbracht, was historisch gesehen eine stark männerdominierte Sparte war. Viele Studien belegen jedoch, dass Frauen in diesem Bereich mindestens genauso gut performen können und bei nachhaltigen, wertsteigernden Anlagestrategien erfolgreicher sein können. Obwohl die Entwicklungschancen für Frauen also hervorragend sind, sind die Zahlen der weiblichen Bewerber oft noch gering.

„Ich würde den Entwicklungsstand nicht unbedingt an Branchen festmachen. Ich sehe eher Unternehmensgröße als einen entscheidenden Faktor.“

Wie lässt sich das verändern?

Rüttinger: Die Chancen für Frauen müssten eindeutig mehr beworben werden, um hochtalentierte Mitarbeiterinnen gewinnen und fördern zu können. Da Portfoliomanagement im Übrigen ein Teamansatz ist, in dem unterschiedliche Meinungen gechallenged werden müssen, helfen eine diverse Teamstruktur und damit verbundene Denkweisen, eine bessere Performance zu erzielen. Ein Vorteil also für alle Geschlechter. Gleiches gilt aber auch für die anderen Diversitäts-Dimensionen, deren Potenziale vielversprechend sind. Man denke an den Erfahrungsschatz älterer Mitarbeiter*innen und entsprechende Karriereopportunitäten, aber auch an Menschen mit Behinderung, die ganz besondere Fähigkeiten mit sich bringen können, aber oft zurückhaltend bei Bewerbungen sind. Heute arbeite ich im Übrigen in einem Team, in dem die Frauen klassischerweise in der Überzahl sind. Und auch hier bieten sich tolle Chancen für männliche Mitarbeiter, einen erfolgreichen Weg einzuschlagen.

Emilia Rüttinger

Es gibt sicher diversere Branchen als die Finanzwelt, etwa in der Kultur und bei Medien – sind diese Bereiche weiter?

Rüttinger: In manchen Bereichen ja, gerade in Kunst und Kultur, der Fashion oder in Marketingagenturen. Diese Branchen sind damit früher offen umgegangen und haben das Potenzial für sich entdeckt. Allerdings würde ich den Entwicklungsstand nicht unbedingt an Branchen festmachen. Ich sehe eher Unternehmensgröße als einen entscheidenden Faktor. Große und publizitätspflichtige Unternehmen sind in ihren Diversity-, Equity- und Inclusion-Themen sehr visibel und berichten über den Stand und Fortschritt ich ihren Nachhaltigkeitsreports. Hier besteht somit auch ein gewisser Druck wirksame Maßnahmen zu liefern. Darüber hinaus fällt es großen Organisationen einfacher, ganze Teams hochqualifizierter und hochmotiverter Menschen einzustellen, um diese Themen voranzubringen. Kleinere Unternehmen haben diese Visibilität oder auch Möglichkeiten oft nicht und auch keinen so starken Support durch HR-Abteilungen oder den Betriebsrat. Das kann bedeuten, dass es Menschen mit diversen Merkmalen schwerer fällt, eine entsprechende Unterstützung für gleiche Chancen und Inklusion zu erhalten. Ich sehe daher Unterstützungen für kleine und mittlere Unternehmen in diesem Bereich als wertvolles Mittel.

Gibt es hinsichtlich Diversität ein besonderes persönliches Erlebnis oder ein Vorbild für Sie?

Rüttinger: Ich habe kein einzelnes Vorbild, das ich benennen könnte, aber viele, an denen ich mich orientiere und die mir Vorbild sind. Zum einen sind es die starken Transfrauen und -männer, die in einer Zeit mit ihrer Identität an die Öffentlichkeit gegangen sind, als dieser Schritt noch gesellschaftlich verachtet wurde und Menschen um ihren Job und ihre persönliche Reputation und Gesundheit fürchten mussten. Während ich Angst hatte und mich nicht traute, haben sie Farbe bekannt. Ihnen habe ich zu verdanken, dass mein Weg des Outings und der Transition möglich war.

„Ich habe in meinem Leben leider auch Gewalt und Ausgrenzung erfahren müssen. Gerade am Anfang der Transition, als ich noch nicht weiblich aussah.“

Auch haben mich viele Menschen auf dem schwierigen Weg der Transition fasziniert, von denen ich selbstlose Hilfe erfahren habe. Hierzu zählen meine Familie, Freunde, Arbeitskolleg*innen, meine Ärzte und Psychologen und viele Menschen aus den internationalen Selbsthilfegruppen. Es sind unglaublich viele Menschen notwendig, um einen einzigen Menschen durch die Transition zu bringen. Die Erfahrung macht dankbar und bescheiden und hat mein Weltbild massiv verändert. Ich habe in meinem Leben leider auch Gewalt und Ausgrenzung erfahren müssen. Gerade am Anfang der Transition, als ich noch nicht weiblich aussah. Aber dem gebe ich keinen Raum. Stattdessen haben meine Erfahrungen mich gelehrt, dass der absolut überwiegende Teil der Menschen etwas Gutes, Mitfühlendes, Helfendes in sich hat. Diese Menschen habe ich in meinem Herzen und das ist doch ein sehr schönes kollektives Vorbild.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie sich in einem männlichen Körper unwohl fühlen?

Rüttinger: Bereits im Kindesalter wusste ich, dass mit mir etwas anders ist. Ich bin in einem guten Umfeld mit zwei Geschwistern groß geworden, mein Vater war Elektroingenieur und meine Mutter Hausfrau. Ich bin also wohlbehütet aufgewachsen, fühlte mich im Kreise gleichaltriger Jungs aber nicht so gut aufgehoben. Allerdings konnte ich damals überhaupt nicht benennen, was dieses Gefühl war und es gab auch keinerlei Aufklärung hinsichtlich Transidentität, die in meiner Kindheit ein totales Tabuthema war. 

 

Wann konnten Sie erstmals benennen, was Sie damals schon gefühlt haben?

Rüttiner: Die nächste große Erfahrung war sicher meine Pubertät, die ich als etwas sehr Schlimmes empfunden habe. Hier begann sich die Geschlechtsdysphorie massiv auszuwirken: Das Gehirn meldete massiv zurück, dass alle Änderungen – die die Pubertät nun mal mit sich bringt – grundlegend falsch waren. Sei es der Bartwuchs, der Körperbau, das Gesicht, die Stimme oder das Sexualempfinden. Mein Gehirn lehnte all das schlichtweg ab, was für mich einen immensen Stress bedeutete.

Aber auch zu diesem Zeitpunkt gab es niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Es gab kein Internet und keine Selbsthilfegruppen, bei denen man sich informieren konnte. Der Familien- und Freundeskreis war nicht offen für ein solches Thema, dass absolut tabuisiert war und über das es kaum faktisches Wissen gab. Auch die Psychologie war seinerzeit eher darauf bedacht, Transidentität als Abnormalität zu sehen, die es zu beseitigen galt. Transidentität galt damals als etwas Schmutziges. Das Leiden durch die Dysphorie trug ich damit bis zum Alter von 52 Jahren in mir. Erst dann gelang es mir, mich durch eine Reihe von intensiven Operationen von meiner körperlichen Behinderung zu befreien.

Zwischen Pubertät und diesen Operationen liegt eine lange Zeit.

Rüttinger: Nach der Pubertät folgten Jahre der Vermutung, des Nicht-Wahrhaben-Wollens und der Verdrängung, in denen ich mich sehr unwohl und isoliert fühlte. Im Studium besorgte ich mir erste Literatur und das Aufkommen von Internetforen half mir ebenso, mich über das Thema Transidentität anonym zu informieren. Aber auch damals wusste ich noch nicht, dass es mich definitiv betrifft. Mein entscheidendes Erlebnis hatte ich, als ich in meinen ersten Berufsjahren allen Mut zusammenfasste und in eine Trans-Gruppe in Frankfurt ging – mit der Hoffnung: „Du bist es nicht“. Ich wurde enttäuscht und damit war die Welt eine gänzlich andere.

„Ich fürchtete mich vor gesellschaftlicher Verachtung, einen Jobverlust und davor, die Familie nicht versorgen zu können und auch vor mir selbst.“

Was veränderte das?

Rüttinger: Meine Strategie. Ich war mir bewusst, dass ich als Frau geboren wurde, aber ich hatte viele Ängste und war feige. Ich fürchtete mich vor gesellschaftlicher Verachtung, einen Jobverlust und davor, die Familie nicht versorgen zu können und auch vor mir selbst. Somit entschied ich mich dafür, die Männerrolle zu spielen und sie durchzuhalten. Übrigens eine aus heutiger Sicht sehr überspitzte Männerdarstellung, um als Macher gesehen zu werden und nicht aufgedeckt zu werden. Ich füllte meine Zeit zudem mit extrem viel Arbeit. Wenn ich nicht arbeitete, füllte ich sie mit Leistungssport. Das Ziel: Nicht über mich nachdenken. Heute kann ich sagen, dass ich wohl 70 Prozent meiner Energie damit verbracht habe, gegen mich selbst zu kämpfen und das Mädchen in mir zu begraben. Für die Außenwelt war das nicht sichtbar – obwohl doch einige bemerkten, dass ich innerlich zerrissen war, da eine solche Rolle nie authentisch sein kann.

Emilia Rüttinger beim Internationalen Frauentag.

Diesen Modus habe ich bis ins Alter von 52 Jahren durchgehalten. Es gab zwischenzeitlich Zusammenbrüche, da eine menschliche Seele daran kaputt geht. Dennoch habe ich mich immer wieder aufgerappelt, bis dann im Alter von 52 Jahren Schluss war. Meine Seele konnte nicht mehr und ich konnte so nicht weiterleben.

Der lange Weg bis zur Transition klingt belastend. Waren Sie den Großteil ihres Lebens eher unglücklich?

Rüttinger: Es gab schon auch viele Momente des Glücks, insbesondere wenn ich an meine Familie denke. Aber ja – ich war unglücklich, denn ich litt unter den Auswirkungen der Dysphorie und der Verzweiflung, niemals meine eigentliche Identität leben zu können. In der Zeit vor der Transition selbst habe ich das Gefühl oft verdrängt. Dies ist mir aber mit den Jahren immer schwerer gefallen, so dass ich sehr oft weinen musste, mich dann aber immer wieder aufrappelte, um weiter zu machen. 

Dann fiel der Entschluss zur Transition.

Rüttinger: Genau. Viele Menschen haben mir im Nachhinein gesagt, wie mutig ich wäre. Doch es hatte nichts mit Mut zu tun, sondern mit der Erfahrung eines Zusammenbruches, einer unendlichen Verzweiflung und Panik. Ich war nicht mutig, sondern nur verloren. So fiel ich ungesteuert in meine Transition und war auf nichts vorbereitet. Zum Glück hat mich der Qualitätszirkel Trans der behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten und die Selbsthilfegruppen in München gut aufgefangen und mir bei meinen Schritten in der Transition geholfen.

Wie lief die Transition ab?

Rüttinger: Ich habe dann meine Hormontherapie begonnen, meine Sitzungen für die Gutachten gemäß Transsexuellengesetz (TSG) bei den Psychologen für meine Vornamens- und Personenstandsänderung begonnen, die erste Haartransplantation und Stimm-OP gemacht und meine verpflichtende Psychotherapie für die geschlechtsangleichende Operation (GaOP) begonnen. Meine großen Operationen wie GaOP, Gesichtsfeminisierung – dazu zählen Stirn, Augen, Nase, Kinn- sowie Kieferanpassung und Adamsapfel – sowie die Brust-OP habe ich dann in einer Spezialklinik in Bangkok gemacht. Dort bin ich auch letztlich das Leiden meiner Dysphorie losgeworden. Deshalb sage ich heute, dass ich dort geboren bin.

„Ich weiß nicht mehr, wie es sich tatsächlich im falschen Körper angefühlt hat und kann es nur noch sachlich beschreiben“

Wie fühlt sich das Leben nach dieser Geburt an?

Rüttinger: Ich lebe seitdem ohne diese physische Behinderung im richtigen Körper und ich bin unendlich froh, diesen Weg gegangen zu sein. Die zweieinhalb Jahre der Transition habe ich hier in Deutschland oft als sehr schwierig empfunden, da ich – gerade in Zeiten, in denen ich noch nicht weiblich aussah – oft in der Öffentlichkeit diskriminiert wurde oder Gewalt erfahren musste. In dieser Beziehung fühle ich mich in Bangkok freier, da die Transidentität dort kein Thema ist.

Wenn wir nochmal zum Anfang unseres Gespräches zurückkommen und damit zum Deadname: Ist ihr altes Leben „ausgeschaltet“ und eine eher ungeliebte Fußnote ihrer Entwicklung?

Rüttinger: In gewisser Beziehung schon. Ich weiß nicht mehr, wie es sich tatsächlich im falschen Körper angefühlt hat und kann es nur noch sachlich beschreiben. Aber das ist sicherlich auch gut so. Mein weibliches Gehirn und meine weibliche Identität dürfen jetzt endlich leben, fühlen und wahrnehmen. Das Gehirn erkennt, dass es die alte gespielte Rolle nicht mehr benötigt und lässt sie los. Eigentlich weiß ich erst seit dem Loslassen von meiner alten Rolle und seit dem Beginn der Hormontherapie, wie sich Leben eigentlich anfühlt. Ich habe es vorher nie gespürt. Die Umstellung im Kopf ist insofern viel bedeutender als das, was sich körperlich verändert. Ich musste das Leben komplett neu lernen. Ich habe mich nicht mehr getraut zu schwimmen, vor anderen Leuten zu reden, habe über alles zigmal nachgedacht und meine Resilienz war von einem auf den anderen Tag verschwunden.

 

Auf der anderen Seite nahm ich auf einmal viel mehr wahr, Gefühle und Emotionen waren unendlich intensiv und schön – aber teilweise auch überfordernd. Das weibliche Gehirn griff zudem auf männlich sozialisierte Verhaltensmuster zurück, was am Anfang sehr irritierend war. Heute hat sich das gut ausgependelt und ich nehme das Leben in einer unglaublich schönen Intensität wahr. Die Person, die ich in alten Videos sehe, ist mir oft komplett unverständlich. Ich habe am Anfang oft über die „weggeworfene“ Lebenszeit getrauert, in der ich nicht wirklich gelebt habe. Aber heute kann ich mich dankbar von ihr verabschieden, denn sie war wohl für etwas gut und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Auch kann ich sagen, dass ich meine Bestimmung gefunden habe. Das ist ein großes Geschenk.

Wie geht es Ihnen heute?

Rüttinger: Ich bin frei und ich habe das Leben. Das ist ein unglaubliches Geschenk. Ich möchte ein positiv denkender Mensch sein und mich an meiner Identität mit anderen freuen können. Ich habe viele Freunde, die ich auf meiner Transitionsreise auf der Welt kennenlernen durfte und wir geben uns gegenseitig unglaublich viel Kraft. Ich kann jetzt die 70 Prozent Energie, die ich gegen mich richtete, für etwas Sinnvolles verwenden. Meine Transition ist physisch beendet und das Leben kann losgehen. Psychologisch bekomme ich weiter Unterstützung: 40 Jahre Verdrängung und erlebte Traumata sind nicht so schnell geheilt wie die körperlichen Dinge. Ich empfinde mein Leben als unglaubliche Chance, die ich nutzen will. Vielleicht empfindet man das auch gerade deshalb so intensiv, weil dieser Weg so holprig war.

„Heute gibt es eine Reihe wirklich toller Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen in allen großen Städten sowie entsprechende LGBTQIA*-Foren im Internet.“

Was können Sie jungen Menschen, die sich mit vergleichbaren Veränderungen beschäftigen, raten?

Rüttinger: Heute gibt es – Gott sei Dank – eine Reihe wirklich toller Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen in allen großen Städten sowie entsprechende LGBTQIA*-Foren im Internet. Hinzu kommen die Trans*-Behandler-Netzwerke von Ärzten und Psychotherapeuten und ein insgesamt viel offenerer Umgang der Gesellschaft mit den Themen. Mein Rat an junge Menschen ist, diese aktiv zu nutzen und sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. Ihr seid nicht allein und eine große Community unterstützt Euch auf Eurem Wege. Und Ihr könnt dort nichts falsch machen. „Be yourself and free yourself“ – der Weg ist es absolut wert.

Sie heißen inzwischen Emilia Marina Rüttinger – was bedeutet der Name?

Rüttinger: Ich gehöre zu den wenigen Menschen, die sich ihren Vornamen selbst auswählen durften. Marina bedeutet „die zum Meer Gehörende“ – ich liebe alles rund um Wassersport. Sei es Schwimmen, Tauchen oder Segeln. Im Wasser und im Meer fühle ich mich einfach wohl. Emilia heißt etwa „die Eifrige, die Fleissige“. In einer gewissen Beziehung bin ich auch das, aber ich fand den Namen wunderschön, feminin und ich mag ihn einfach.

Was wollen Sie als Emilia Marina Rüttinger noch unbedingt erleben?

Rüttinger: Das Leben. Mein richtiges Leben in meiner richtigen Identität. Und etwas zurückgeben. Ein Traumbild, das ich in den schweren Zeiten immer vor meinem Auge hatte, habe ich schon verwirklicht: In einem Badeanzug schwimmen gehen zu können und dabei glücklich zu sein, wie ich bin. Und das tue ich heute – sogar im Bikini.


Über die Interviewte:
Emilia Rüttinger arbeitet seit Oktober 2022 als Spezialistin für Diversität, Equity und Inklusion bei der Meag. Ihre berufliche Laufbahn begann sie bei Union Investment, wo sie unter anderem das Team für Nonfinancial-Credit leitete. Im Jahr 2007 wechselte sie zur Meag und arbeitete dort bis 2022 als Teamleiterin im Credit-Portfoliomanagement.

Anlaufstellen für Transpersonen:

In Deutschland gibt es ein bundesweites Netzwerk von Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen für Transpersonen. Eine Übersicht regionaler Anlaufstellen bietet beispielsweise der Bundesverband Trans*. Transpersonen, die Diskriminierung erfahren, können sich unter anderem an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) wenden. Die Antidiskriminierungsstelle kann auch mögliche weitere Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner benennen, die unterstützend tätig werden können. Die ADS bietet zudem eine Beratungsstellensuche auf Ihrer Website.

Weitere Netzwerke und Beratungsstellen:

Wie hat Ihnen der Artikel gefallen?

Danke für Ihre Bewertung
Leser bewerteten diesen Artikel durchschnittlich mit 0 Sternen