Transperson über Outing in der Finanzbranche „Ich bin frei und ich habe das Leben“

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Wobei die Finanzbranche nicht gerade als Vorreiter in Sachen Inklusion, Gleichberechtigung und Diversität gilt. Ist die Finanzwelt überhaupt in der modernen und pluralistischen Welt angekommen?

Rüttinger: Sie ist in Deutschland auf einem guten Wege dahin. Nach meinem Outing im Frühjahr 2021 in meiner Firma – und kurze Zeit später ganz öffentlich auf Linkedin – habe ich sehr viel positives, unterstützendes Feedback bekommen. Wenige Jahre vorher wäre es als Transperson noch ganz anders gewesen. Ich hätte womöglich berufliche oder soziale Konsequenzen befürchten müssen. Meine Firma hat mich auf meinem Weg stark unterstützt.

Inwiefern?

Rüttinger: Als Transperson in meinem Alter bedarf es einer Vielzahl medizinischer und psychologischer Unterstützungen und intensiven mehrfachen operativen Eingriffen. Mir wurde ermöglicht, diese vorzunehmen und gleichzeitig meine verantwortungsvolle Rolle im Beruf weiter auszuüben. Dafür bin ich sehr dankbar. Allerdings sind wir in der Finanzwelt im Bereich LGBTQIA+, aber auch in allen anderen Diversity-Dimensionen wie Geschlecht, Generation, Menschen mit Behinderungen oder Ethnicity noch lange nicht da wo wir sein könnten oder sollten. Vor allem im internationalen Kontext gibt es Länder, in denen Chancengleichheit und Inklusion nicht so stark entwickelt sind. Teilweise steht eine LGBTQIA+-Zugehörigkeit sogar unter Strafe. Gerade bei international agierenden Firmen der Finanzbranche muss das beachtet werden, wenn es um Geschäfte in diesen Ländern oder die Interaktion mit Kunden geht.

 

Kann die Internationalität der Branche auch ein Vorteil sein?

Rüttinger: Ja absolut, denn Internationalität ist eine Diversitätsdimension und kreiert den Vorteil gegenseitigen Lernens und besserer Entscheidungen durch unterschiedliche Denkweisen, kulturelle Entwicklungen und Erfahrungen. Davon können gesamte Organisationen massiv profitieren. Allerdings stellt Internationalität – wie bereits erwähnt – auch eine Herausforderung dar: Um Inklusion und Zugehörigkeit zu kreieren, bedarf es vieler guter Schritte. Sprachbarrieren oder Voreingenommenheit gegenüber Unbekanntem müssen überwunden, die regionalen Bedürfnisse in verschiedenen Ländern berücksichtiget werden. So mag die Unterstützung zu einem Outing in Europa inklusionsfördernd sein, während ein solches Bekenntnis in einem anderen Land zu Ausgrenzung oder gar Bestrafung führen kann. Insofern müssen alle Maßnahmen stets individuell und sehr abgewogen zum Schutze der oder des Einzelnen erfolgen. Die Welt ist in Bezug auf Diversität sehr unterschiedlich entwickelt und dies gilt es zu berücksichtigen.

Wo gibt es in der Finanzbranche noch Defizite?

Rüttinger: Ich würde hier lieber das Wort Potenziale verwenden. Denn: In einigen Bereichen der Finanzbranche ist die Chance, die sich aus Diversität und Inklusion ergibt, noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Ich habe etwa die meiste Zeit meines beruflichen Lebens im Portfoliomanagement verbracht, was historisch gesehen eine stark männerdominierte Sparte war. Viele Studien belegen jedoch, dass Frauen in diesem Bereich mindestens genauso gut performen können und bei nachhaltigen, wertsteigernden Anlagestrategien erfolgreicher sein können. Obwohl die Entwicklungschancen für Frauen also hervorragend sind, sind die Zahlen der weiblichen Bewerber oft noch gering.

„Ich würde den Entwicklungsstand nicht unbedingt an Branchen festmachen. Ich sehe eher Unternehmensgröße als einen entscheidenden Faktor.“

Wie lässt sich das verändern?

Rüttinger: Die Chancen für Frauen müssten eindeutig mehr beworben werden, um hochtalentierte Mitarbeiterinnen gewinnen und fördern zu können. Da Portfoliomanagement im Übrigen ein Teamansatz ist, in dem unterschiedliche Meinungen gechallenged werden müssen, helfen eine diverse Teamstruktur und damit verbundene Denkweisen, eine bessere Performance zu erzielen. Ein Vorteil also für alle Geschlechter. Gleiches gilt aber auch für die anderen Diversitäts-Dimensionen, deren Potenziale vielversprechend sind. Man denke an den Erfahrungsschatz älterer Mitarbeiter*innen und entsprechende Karriereopportunitäten, aber auch an Menschen mit Behinderung, die ganz besondere Fähigkeiten mit sich bringen können, aber oft zurückhaltend bei Bewerbungen sind. Heute arbeite ich im Übrigen in einem Team, in dem die Frauen klassischerweise in der Überzahl sind. Und auch hier bieten sich tolle Chancen für männliche Mitarbeiter, einen erfolgreichen Weg einzuschlagen.

Emilia Rüttinger

Es gibt sicher diversere Branchen als die Finanzwelt, etwa in der Kultur und bei Medien – sind diese Bereiche weiter?

Rüttinger: In manchen Bereichen ja, gerade in Kunst und Kultur, der Fashion oder in Marketingagenturen. Diese Branchen sind damit früher offen umgegangen und haben das Potenzial für sich entdeckt. Allerdings würde ich den Entwicklungsstand nicht unbedingt an Branchen festmachen. Ich sehe eher Unternehmensgröße als einen entscheidenden Faktor. Große und publizitätspflichtige Unternehmen sind in ihren Diversity-, Equity- und Inclusion-Themen sehr visibel und berichten über den Stand und Fortschritt ich ihren Nachhaltigkeitsreports. Hier besteht somit auch ein gewisser Druck wirksame Maßnahmen zu liefern. Darüber hinaus fällt es großen Organisationen einfacher, ganze Teams hochqualifizierter und hochmotiverter Menschen einzustellen, um diese Themen voranzubringen. Kleinere Unternehmen haben diese Visibilität oder auch Möglichkeiten oft nicht und auch keinen so starken Support durch HR-Abteilungen oder den Betriebsrat. Das kann bedeuten, dass es Menschen mit diversen Merkmalen schwerer fällt, eine entsprechende Unterstützung für gleiche Chancen und Inklusion zu erhalten. Ich sehe daher Unterstützungen für kleine und mittlere Unternehmen in diesem Bereich als wertvolles Mittel.

Gibt es hinsichtlich Diversität ein besonderes persönliches Erlebnis oder ein Vorbild für Sie?

Rüttinger: Ich habe kein einzelnes Vorbild, das ich benennen könnte, aber viele, an denen ich mich orientiere und die mir Vorbild sind. Zum einen sind es die starken Transfrauen und -männer, die in einer Zeit mit ihrer Identität an die Öffentlichkeit gegangen sind, als dieser Schritt noch gesellschaftlich verachtet wurde und Menschen um ihren Job und ihre persönliche Reputation und Gesundheit fürchten mussten. Während ich Angst hatte und mich nicht traute, haben sie Farbe bekannt. Ihnen habe ich zu verdanken, dass mein Weg des Outings und der Transition möglich war.

„Ich habe in meinem Leben leider auch Gewalt und Ausgrenzung erfahren müssen. Gerade am Anfang der Transition, als ich noch nicht weiblich aussah.“

Auch haben mich viele Menschen auf dem schwierigen Weg der Transition fasziniert, von denen ich selbstlose Hilfe erfahren habe. Hierzu zählen meine Familie, Freunde, Arbeitskolleg*innen, meine Ärzte und Psychologen und viele Menschen aus den internationalen Selbsthilfegruppen. Es sind unglaublich viele Menschen notwendig, um einen einzigen Menschen durch die Transition zu bringen. Die Erfahrung macht dankbar und bescheiden und hat mein Weltbild massiv verändert. Ich habe in meinem Leben leider auch Gewalt und Ausgrenzung erfahren müssen. Gerade am Anfang der Transition, als ich noch nicht weiblich aussah. Aber dem gebe ich keinen Raum. Stattdessen haben meine Erfahrungen mich gelehrt, dass der absolut überwiegende Teil der Menschen etwas Gutes, Mitfühlendes, Helfendes in sich hat. Diese Menschen habe ich in meinem Herzen und das ist doch ein sehr schönes kollektives Vorbild.