Emerging-Markets-Expertin im Interview „Aus der Dollarwende ergibt sich für Schwellenländer großes Aufwärtspotenzial“

Mary-Therese Barton, Leiterin Emerging Markets bei Pictet Asset Management empfing Malte Dreher, Herausgeber des private banking magazin, zum Gespräch in London.

Mary-Therese Barton, Leiterin Emerging Markets bei Pictet Asset Management, empfing Malte Dreher, Herausgeber des private banking magazin, zum Gespräch in London. Foto: private banking magazin

private banking magazin: Frau Barton, Sie sind auf vielen Kundenveranstaltungen und Kongressen. Ist ESG noch ein Thema?

Mary-Therese Barton: Ja, mich wundert immer, wie viele Vermögensverwalter ausdrücklich mit ESG an ihren Messeständen werben. Gefühlt ist es jeder dritte…

Interessant.

Barton: Uns geht es darum, in einer unsichereren Welt mit erhöhter Volatilität widerstandsfähige Portfolios aufzubauen. ESG ist nicht nur ethisch wünschenswert, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Investoren, die ESG berücksichtigen, optimieren ihr Risiko-Rendite-Profil. Portfolios werden langfristig widerstandsfähiger, wenn beispielsweise geopolitische Belange, die den Aspekt Governance beeinflussen, berücksichtigt werden.

Mit einer Reihe von Schwellenländern verbinden Anleger viele Hoffnungen. Das Thema ESG spielte hier bislang allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Was ändert sich aus Ihrer Sicht?

Barton: Wir ziehen ESG-Aspekte für die Länder-Analyse in den Emerging Markets heran. Die Folgen des Klimawandels sind für viele dieser Volkswirtschaften erheblich und wirken sich schon jetzt auf die langfristige Tragfähigkeit ihres Schuldenprofils und ihren künftigen Wachstumskurs aus. Infolge der Pandemie rücken soziale Aspekte ebenfalls stärker in den Fokus. Schauen Sie sich den Linksruck in Lateinamerika an. Er hängt mit teils krassen sozialen Ungleichheiten zusammen, die in der Corona-Krise überdeutlich zutage traten, sei es Gesundheitsversorgung oder Bildungsgerechtigkeit. Manager von Schwellenländeranleihen tun gut daran, diese Faktoren in ihre Analyse einzubinden.

Oft wird derzeit vom Triple-D-Szenario gesprochen: Demografie, Deglobalisierung und Dekarbonisierung. Was bedeutet das für Investitionen in den Schwellenländern?

Barton: Schauen wir uns das zweite D, die Deglobalisierung, näher an. Ich habe den Eindruck, dass der Begriff etwas zu hoch gegriffen ist. Es handelt sich vielmehr um eine Neuausrichtung der Handelsbeziehungen. So sehen wir einen großen Aufschwung bei ausländischen Investitionen in Mexiko und Zentralamerika. Mexiko hat inzwischen niedrigere Lohnstückkosten als China – das war bei meinem Berufseinstieg anders. Aber ganz klar: Ein großer Teil des Emerging-Markets-Narrativs wurde von der China-Story getrieben. Das hat sich verändert. Geopolitische Erwägungen und Nähe zu den Verbrauchermärkten werden zukünftig eine viel größere Rolle spielen als die „simple“ Globalisierungsstory zuvor.

Wie wirkt sich Dekarbonisierung auf Investitionen aus?

Barton: Die Dekarbonisierung spielt rohstoffreichen Ländern, etwa Lieferanten von Kupfer und Lithium, in die Karten: Daher werden die entwickelten Märkte verstärkt Handelsbeziehungen mit Ländern Lateinamerikas aufbauen. 

 

Aber auch die Demografie sorgt für gewaltige Veränderungen.

Barton: In der Tat. Im Jahr 2050 werden in Nigeria 400 Millionen Menschen leben. Die Region, in der wir die größten demografischen Veränderungen sehen, ist Subsahara-Afrika mit seinen Frontier-Märkten. Auch in etwa der Hälfte der lateinamerikanischen Märkte und in Indien wächst die Bevölkerung – im Gegensatz zu China, wo die Einwohnerzahl in den kommenden Jahrzehnten stark zurückgehen wird. Vor der Pandemie stand China fast allein im Fokus der Schwellenländer-Anleger. Inzwischen ist eine globale Perspektive angesichts der Veränderungen im Weltwirtschaftsgefüge unabdingbar.

Sprechen wir über die Auswahl von Anleihen. Wie gehen Sie vor?

Barton: Das Anlageuniversum meines Teams umfasst mehr als 75 Länder. Zu Beginn meiner Tätigkeit als Investor im Bereich Emerging Market Debt waren es 30. Bemerkenswert ist, dass viele Schwellenländer damit beginnen, Anleihen in harter Währung, in US-Dollar und Euro, zu begeben, beispielsweise Angola, Gabun, Ghana, Kenia, Mosambik und Senegal. Die Zahl der Länder, die in harter Währung emittieren, ist in den vergangenen 15 Jahren sehr deutlich gestiegen. Daraus folgt: Die Fundamentaldaten vieler Volkswirtschaften in unserem Anlageuniversum von 75 Ländern werden stärker.

Aber unsere Arbeit beim Portfolioaufbau besteht darin, genau hinzusehen. Wir stellen uns Fragen wie: Was werden höhere oder niedrigere Zinsen für den Kapitalfluss in die Schwellenländer bedeuten? Welche Länder sind anfällig? Welche Länder sind widerstandsfähig? Wie entwickeln sich die Bewertungen? Auf der Grundlage unserer tiefgreifenden Makrosicht verschaffen wir uns damit zunächst so etwas wie einen „Leitstern“, wie ich es gerne nenne. Dann sehen wir uns die Fundamentaldaten der Schwellenländer im Einzelnen an, um überzeugende Chancen zu erkennen.

 

 

Wie sieht dann der nächste Schritt aus?

Barton: Unsere Makroeinschätzungen werden durch einen „Sovereign Deep Dive“, wie wir es bezeichnen, ergänzt. Wir untersuchen Faktoren, die auf die ländereigene Bilanz wirken; darunter das Wachstumsumfeld und der Inflationshintergrund, und führen dann ein Bewertungs-Screening durch. Wir wollen zu einem genauen Bild kommen. Wir wollen herausfinden, wo die Schwachstellen liegen und wo wir Verbesserungen oder Verschlechterungen sehen, um eine Über- oder Untergewichtung gegenüber der Benchmark in Betracht zu ziehen. Ergänzt wird dieses Vorgehen durch ein spezielles ESG-Meeting, bei dem wir prüfen, ob wir auch bei dieser Bewertung der Volkswirtschaften die richtige Dynamik haben: Wo verbessern sie sich? Wo verschlechtern sie sich?

Nach der Analyse sind unsere Portfoliomanager gefragt, um die besten Handelsideen zu finden. Gemeinsam bauen wir dann ein diversifiziertes Portfolio aus Ländern auf, das auf gut begründeten Überzeugungen basiert.