Großer Sektorenvergleich Anleger werden Risiken neu bewerten

René Hermann ist Partner beim Schweizer Kredit-Analyseunternehmen Independent Credit View. In seinem Beitrag nimmt er ausgewählte Sektoren unter die Lupe.

René Hermann ist Partner beim Schweizer Kredit-Analyseunternehmen Independent Credit View. In seinem Beitrag nimmt er ausgewählte Sektoren unter die Lupe. Foto: Independent Credit View

Die ultralockere Geldpolitik sowie die Maßnahmen der Zentralbanken haben Blasen sowie Marktverzerrungen an den Finanzmärkten erzeugt, den Kreditzyklus verlängert und zu einem Rückgang bei den Kreditspannen geführt. Die positiven Effekte dieser Lockerungen werden jedoch nicht zukunftsfähig sein und abnehmen, auch wenn der Markt eine technische Unterstützung durch das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) erhält. Zudem hat sich die fundamentale Kreditqualität der Unternehmen trotz vorteilhafter Konjunktur aufgrund des Aktionärsfokus verschlechtert. Und das aktuelle wirtschaftliche Umfeld lässt keine Besserung zu. 

Wir erwarten, dass die Volatilität zunehmen wird und gehen mittelfristig von einer Risikoneubewertung aus, wobei Investoren die in Vergessenheit geratenen Risiko- und Illiquiditätsprämien einfordern werden. In einem solchen Szenario differenziert der Markt, während die Bonität in den Vordergrund rückt. Deshalb raten wir generell zu höherer Kreditqualität und einer sorgfältigen Überprüfung der Schuldner. Vor diesem Hintergrund ist das Anlagejahr 2020 herausfordernd und stellt Investoren auch vor die Frage, welche Sektoren erfolgsversprechend sind und welche weniger interessant erscheinen. Dazu haben wir einige ausgewählte Sektoren unter die Lupe genommen und hinsichtlich ihrer Chancen für dieses Jahr bewertet. 

Automobilhersteller und ihre Zulieferer

Automobilhersteller und ihre Zulieferer verfügen momentan über stärkere Kreditprofile als vor der letzten Finanzkrise, befinden sich jedoch erst am Anfang eines strukturellen Umbruchs in der Industrie. Angesichts des schwierigen Marktumfelds steht eine Weiterführung der bisher hohen Finanzdisziplin in Konflikt mit dem Druck zu massiven Investitionen in Zukunftstechnologien, bei welchen eine erfolgreiche Monetarisierung aber noch ungewiss ist.

Der Kostendruck dürfte unseres Erachtens in den nächsten Jahren auch vermehrt zu Allianzen und Zusammenschlüssen führen. Wir erwarten weiterhin eine graduelle Abschwächung der Finanzprofile und damit auch der Rating-Einstufungen. Trotz der mehrheitlich besser als erwarteten Resultate im Bereich der Kapitalgüter sind die Nachfrage und das Investitionsverhalten weiterhin getrübt, was generell Druck auf die Finanzrisikoprofile ausübt. Hinzu kommt, dass viele Gesellschaften noch von hohen Auftragsbeständen profitieren, was bis dato geholfen hat, die Produktionskapazitäten auszulasten. Aus Bonitätssicht favorisieren wir Gesellschaften mit hoher Profitabilität und wiederkehrenden Umsätzen (zum Beispiel Servicegeschäft).

Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie

In der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie wächst der Druck auf die Margen aufgrund erhöhter Investitionen für die Anpassung des Produktportfolios, des intensiven Wettbewerbs sowie der begrenzten Preiskraft der Unternehmen. Und im Retail-Sektor wird das Wachstum im E-Commerce, der mit niedrigeren Margen operieren kann, das Umsatzwachstum und die Margen in den übrigen Einzelhandelsgebieten weiter belasten.

Die Einzelhändler in Europa werden den Schmerz aufgrund der weniger robusten makroökonomischen Trends und des geringeren Verbrauchervertrauens wahrscheinlich etwas stärker spüren als ihre Kollegen in den USA. Deshalb erwarten wir in Europa eine Abschwächung der Finanzprofile der Einzelhändler. Obwohl wir mit einer stabileren Entwicklung in den USA rechnen, werden auch bestimmte Händler wie Kaufhäuser mit Gewinnrückgängen konfrontiert sein.