Die jüngste Zinssenkung der US-Notenbank (Fed) war nicht notwendig. Ich bin der Auffassung, dass sich die US-Wirtschaft gut schlägt, die Deflationsrisiken aufgebauscht werden und die lockerere Geldpolitik die Verzerrungen an den Finanzmärkten verstärken wird. Meine Sorge ist jedoch, dass die Geldpolitik ihren Halt verloren hat und es der Fed an Überzeugung und Orientierung mangelt.
Für ihren Entscheid zur Zinssenkung nannte die Fed auf ihrer Juli-Sitzung einen Mischmasch von Gründen: Sie argumentierte mit einer Versicherung gegen Unsicherheiten im Welthandel, der Steigerung der Inflation und einer weiteren Stützung des Arbeitsmarkts. Die Fed ignorierte mit ihrem Zinsentscheid die harten Daten, die eine durch den starken Arbeitsmarkt und den Konsum getragene robuste Konjunktur zeigen.
Der US-Wirtschaftswissenschaftler Robert Barro aus Harvard geht davon aus, dass die Fed vor dem politischen Druck eingeknickt ist: Nicht nur die Märkte, sondern auch Politiker, allen voran Donald Trump, rufen vehement nach niedrigeren Zinssätzen. Meine Meinung: Man gibt dem Druck eher nach, wenn man von den eigenen Ideen nicht restlos überzeugt ist. Viele Forscher und Marktteilnehmer gehen angesichts niedriger Inflation und niedrigen Anleihenrenditen davon aus, dass die Fed zukünftig nicht mehr imstande sein wird, die Zinssätze ausreichend zu senken, um einer Rezession zu begegnen.
Rufe nach 4 bis 5 Prozent Inflation werden lauter
Ein von den Wirtschaftswissenschaftlern Olivier Blanchard und Lawrence Summers vorgebrachtes Argument lautet, dass die Geldpolitik mehr leisten kann, als das Auf und Ab des Konjunkturzyklus abzufedern: Sie kann das langfristige Wachstum gestalten. Indem die Geldpolitik die Konjunktur für längere Zeit auf ein höheres Tempo bringt, ermöglicht sie Investitionen und sorgt dafür, dass mehr Menschen in Erwerbstätigkeit kommen und Fertigkeiten erlangen. Der Anstieg bei Investitionen und Humankapital erhöht letztlich das Wachstumspotenzial. Würde die Geldpolitik hingegen eine längere Rezession zulassen, ergibt sich eine gegenteilige Wirkung.
Diese Erkenntnis befeuert eine heftige Debatte darüber, ob und wie der geldpolitische Rahmen der Fed geändert werden sollte. Der zugrunde liegende Konsens ist offenbar, dass zum einen Deflation und säkulare Stagnation die größten Risiken sind und dass zum anderen die Fed eine höhere Inflation von möglicherweise 4 bis 5 Prozent anstreben sollte. Eine wertvolle Debatte, wie ich finde. Da sich die Wirtschaft weiterentwickelt, müssen Ökonomen und Währungshüter neue Wege finden, um das Wesen ihrer Dynamik zu verstehen.
Angst vor Deflation ist übertrieben
Der neue Fetisch Inflation verwirrt mich allerdings. Treten wir einen Schritt zurück: Was möchten wir als Gesellschaft erreichen? Und was sollten die Währungshüter daher anstreben?
Was die Inflation anbelangt, soll sie zu Vollbeschäftigung und einer raschen Steigerung des Lebensstandards für möglichst viele Menschen führen. Die Inflation soll niedrig und stabil sein, wir möchten nicht, dass sie der konjunkturellen Entwicklung im Weg steht. In den vergangenen rund 20 Jahren hatten wir genau dies: Verbraucher und Unternehmen konnten die Inflation weitgehend außer Acht lassen.
Die Angst vor einer Deflation ist aus meiner Sicht übertrieben. Selbst während der weltweiten Rezession 2009 oder der europäischen Schuldenkrise verfielen weder die USA noch Europa in eine lang anhaltende Deflationsphase. Die niedrige Inflation hinderte weder die US-Wirtschaft daran, zur Vollbeschäftigung zurückzukehren, noch die Eurozone, für einen Zeitraum von vier Jahren über Potenzial zu wachsen.
Noch ein Beispiel: In Japan – dem abschreckenden Beispiel par excellence für die Gefahren von Deflation – lag das reale Pro-Kopf-Wachstum zwischen 1991 und 2018 im Durchschnitt bei 0,9 Prozent pro Jahr. Dies ist deutlich niedriger als in den USA und in Großbritannien (1,5 Prozent), jedoch nur geringfügig niedriger als in Kanada (1,2 Prozent) und Frankreich (1,1 ). Kurz gesagt: Deflation scheint nicht die größte Bedrohung für einen steigenden Lebensstandard zu sein.