Europas Schwäche Vom Globalisierungsgewinner zum Finanzkrisenverlierer

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Der mit Sicherheit überforderte Staat


Eine besondere Rolle beim Bereitstellen von Sicherheit spielt der Staat, denn diese ist ein öffentliches Gut, das nur von einem Staatswesen bereitgestellt werden kann. Dies sahen auch ausgesprochen staatskritische Ökonomen wie Adam Smith oder Friedrich Hayek nicht anders, wobei diese unter Sicherheit allerdings vor allem Rechtssicherheit und militärische Verteidigung verstanden. Im letzten Jahrhundert hat es allerdings eine Inflationierung des Sicherheitsbegriffs gegeben, der nicht im Sinne der Beiden war: soziale Sicherheit, Arbeitsplatzsicherheit, allgemein verfügbare medizinische Versorgung, Ausbildungssicherheit, Aufsicht über Märkte, Ausfallschutz von Anleihen und so weiter.

Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie stark die Rolle des Staates in einer Gesellschaft sein soll; und aufgrund der ideologischen Vorbelastung der einzelnen Auffassungen möchte ich hier lieber nicht darauf eingehen. Eines ist aber sicher: Je mehr Aufgaben der Staat übernimmt, umso größer werden die Anforderungen an ihn; und umso komplexer interagiert er ebenfalls mit der Privatwirtschaft in In- und Ausland. Und da ein Staatswesen ja auch nur aus aus Menschen besteht, die in ihrer Gesamtheit nur sehr schwer zu koordinieren sind, werden Fehler oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen staatlicher Maßnahmen unvermeidbar.

Diese Nebenwirkungen haben insbesondere in dreierlei Hinsicht fatale Konsequenzen:
  • Der in allen westlichen Nationen inzwischen stark ausgeprägte Wohlfahrtsstaat hat dazu geführt, dass dessen Wohltaten inzwischen nicht mehr nur von der eigentlichen Zielgruppe – sozial oder gesundheitlich benachteiligte Menschen – in Anspruch genommen werden, sondern auch von wirtschaftlich relativ gut situierten Personen. Gerade diese betrachten dessen Leistungen inzwischen als Selbstverständlichkeiten ihres Lebensstandards, auf die sie einen Anspruch haben, selbst wenn sie wenig arbeiten. Konsumerismus ohne Arbeitsethik führt aber dazu, dass insbesondere diejenigen, die es eigentlich gar nicht nötig haben, sich ihren Konsum durch die Arbeitsleistung Anderer finanzieren lassen wollen. Der einfachste Weg für Politiker zur Befriedigung des Anspruchsdenkens sind schuldenfinanzierte Staatsausgaben. Dieser Faktor hat ganz entscheidend zur Aufblähung der Staatsverschuldung in den vergangenen Jahren beigetragen – und erschwert jetzt ein konsequentes Angehen des Staatsschuldenproblems in vielen Ländern.
  • Wenn Unternehmen im freien Wettbewerb versagen, so wäre die marktwirtschaftliche Konsequenz, dass diese Firmen Pleite gehen müssten und ihren Platz besseren überlassen. Sind kriminelle Aktivitäten mit dem Handeln von Unternehmen verbunden, so sollten die Verantwortlichen normalerweise ins Gefängnis. In der heutigen Welt sieht dies aber anders aus: Mit dem Argument unabsehbarer Folgewirkungen sowie aufgrund der Angst vor Arbeitsplatzverlusten wird kriselnden Branchen gerne unter die Arme gegriffen. „To big to fail“ lautet das Stichwort, unter dem nicht nur die Bankenrettung in der Finanzkrise stand, sondern auch Hilfsmaßnahmen wie etwa für die Autoindustrie. Resultat ist nur die Wahrung von Besitzständen und die Behinderung des Strukturwandels. Dem Fehlverhalten von Personen wird nicht durch die Androhung von Strafen vorgebeugt. Stattdessen erlassen Regierungen immer kompliziertere Verhaltensregeln, die wiederum von immer größer werdenden Aufsichtsbehörden überwacht werden. Kommt es dennoch zur Aufdeckung von Verstößen, so ist der Staat heutzutage in der Regel mit deren Verfolgung völlig überfordert. Deswegen werden diese fast immer im Rahmen von Verfahrensabsprachen geregelt, bei denen die Unternehmen eine Strafe zahlen und die Täter relativ unbehelligt bleiben. Für ehrliche Arbeitnehmer und seriöse Firmen ist dies in zweifacher Hinsicht unerfreulich: Für sie steigt einerseits die unnötige Bürokratie immer weiter an. Andererseits bekommen sie ständig vor Augen geführt, dass sich unehrliches oder fahrlässiges Verhalten im Endeffekt doch meistens lohnt.
  • Ein weiterer Effekt von immer mehr Regulierung durch Verhaltensregeln, Zugangsbeschränkungen, Kapitalmindestanforderungen, Meldepflichten und so weiter ist, dass diese wie Marktzutrittsschranken wirken, also neue und innovative Anbieter abschrecken. Dies zementiert die Wettbewerbsposition von etablierten Firmen, egal wie ineffizient sie sind. Hieraus folgen wiederum Rückwirkungen auf die ganze Volkswirtschaft: Wachstum und die Schaffung von produktiven Arbeitsplätzen werden behindert.

Staatliche Einflussnahmen in Wirtschaft und Gesellschaft sind fast immer gut gemeint, werden jedoch in der Regel ohne Berücksichtigung von Folgewirkungen implementiert. In Europa schreitet die gesellschaftliche Lähmung durch Anspruchsdenken und ausufernde Regulierung immer weiter fort. Dies wäre vielleicht gar nicht einmal so schlimm, wenn die ganze Welt so verfahren würde. Aber speziell in der Pazifikregion hat sich eine Dynamik entwickelt, durch die Europa immer mehr ins Hintertreffen zu geraten droht.

Die Pazifikregion: der neue Motor der weltwirtschaftlichen Entwicklung


Seit Beginn der Industrialisierung standen Westeuropa und die nordamerikanische Ostküste im Zentrum der weltwirtschaftlichen Aktivität. Seit den 90er Jahren war allerdings mit dem ökonomischen Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Länder eine zunehmende Verlagerung von Handelsströmen und Produktion in den pazifischen Raum festzustellen.

Diese Tendenz wird sich mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens TPP noch weiter verstärken, mit dem sich einige der wichtigsten nicht-chinesischen Länder zu einer riesigen Freihandelszone zusammengeschlossen haben. Hierbei handelt es sich um so unterschiedliche Nationen wie Brunei, Chile, Neuseeland, Singapur, Australien, Kanada, Japan, Malaysia, Mexiko, Peru, die USA sowie Vietnam. Alle sind durch ein gemeinsames Interesse an mehr wirtschaftlichem Austausch verbunden.

Unter den Mitgliedsländern des TPP sind in Hinblick auf das heutige Thema insbesondere das noch sehr arme Vietnam und das lange auf hohem Niveau stagnierende Japan interessant. Beide Nationen erhoffen sich von dem Freihandelsabkommen Hilfe bei der Überwindung interner Probleme.

Vietnam ist wirtschaftlich jahrzehntelang durch die Nachwirkungen des Bürgerkrieges sowie die kommunistische Herrschaft zurückgehalten worden. Seitdem die dortigen Machthaber auf eine Öffnung des Landes zur Marktwirtschaft setzen, hat eine ökonomische Aufholjagd eingesetzt, die das Land zu einer der am schnellsten wachsenden Nationen gemacht haben. Um den nächsten Entwicklungsschritt gehen zu können, benötigt das Land jedoch zweierlei: 1) relativ stabile Rahmenbedingungen für ausländische Investoren, damit diese bereit sind, den Aufbau einer fortschrittlichen Industrie zu finanzieren; sowie 2) die Öffnung von Exportmärkten für vietnamesische Produkte.

Japan hat inzwischen 25 Jahre der Erstarrung durch nicht gelöste Strukturprobleme hinter sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Land durch Exporterfolg zunächst sehr reich geworden. Der Boom endete in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts jedoch in einer riesigen Börsen- und Immobilienblase. Diese ist aber nie richtig geplatzt, weil Politik und Wirtschaft das Eingeständnis des eigenen Scheiterns gescheut haben. Und weil es keine richtige Bereinigung gab, schleppte Japan seine ungelösten Probleme immer weiter mit; niedriges Wachstum und eine ausufernde Staatsverschuldung waren der Preis hierfür. Damit wurde die Nation zum Sinnbild für Stagnation.

Mit der Wahl von Shinzō Abe zum Premierminister im Dezember 2012 wurde ein radikaler Kurswechsel angestrebt. Er verkündete eine neue Wirtschaftspolitik, die aus „drei Pfeilen“ besteht, welche Japan wieder voranbringen sollen: lockere Geldpolitik, expansive Fiskalpolitik sowie Strukturreformen. Während die ersten beiden Pfeile zur geld- und fiskalpolitischen Expansion relativ schnell abgeschossen wurden, ist er sich bei den strukturpolitischen Maßnahmen zur Öffnung von Märkten und zur Verbesserung der Corporate Governance auf halbem Wege stecken geblieben.

Zentral für den Erfolg des dritten Pfeils von Abe ist deshalb ein Ende der Abschottung gegenüber Importen im Rahmen des neuen Freihandelsabkommens. Mit einer zunehmenden Öffnung und Deregulierung wird die Scheinsicherheit geschützter Märkte aufgegeben. Genau diese „Sicherheit“ hat Japan jahrzehntelang gelähmt. Nur durch ein Einlassen auf die Chancen und Risiken des Wettbewerbs können japanische Unternehmen ihre Stärken voll ausspielen und am Wirtschaftsaufschwung in der Pazifikregion voll partizipieren.