Europas Schwäche Vom Globalisierungsgewinner zum Finanzkrisenverlierer

Seite 2 / 4



Insgesamt kommt er auf sechs Prinzipien:

  1. Wettbewerb: die Dezentralisierung sowohl in der Politik und der Wirtschaft. Hierdurch konnten sowohl Nationalstaaten wie auch der Kapitalismus entstehen. Wettbewerb ist weiterhin zentral dafür, dass neue Ideen eine Chance bekommen und sich im Erfolgsfall schnell durchsetzen können. Durch ihn wird ebenfalls das weniger effiziente schnell verdrängt.
  2. Wissenschaft: ein Streben nach systematischer Aneignung von neuem Wissen. Dies hat sich aus einem veränderten Grundverständnis der Menschen ergeben: Früher wurde die Welt durch die Weisheit der jeweiligen Priester oder Herrscher erklärt. Die Erkenntnis, dass dies nicht ausreicht beziehungsweise das damit verbundene Eingeständnis des eigenen „Nicht-Wissens“ hat zu einer allgemein verbreiteten Auffassung geführt, dass Unbekanntes systematisch erforscht werden sollte, um durch den Erkenntnisgewinn die Menschheit weiterzubringen.
  3. Rechtsstaatlichkeit (Anmerkung: im Original „Property Rights“ oder „Eigentum“ in der deutschen Übersetzung betitelt; ich denke aber, der allgemeine Begriff „Rechtsstaatlichkeit“ trifft besser, worauf Ferguson abzielt): allgemein akzeptierte gesellschaftliche und gesetzliche Regeln, die sowohl die Eigentumsrechte des Einzelnen definieren und schützen, wie auch Konflikte friedlich beilegen.
  4. Medizin: Die Wissenschaft, welche sich mit der menschlichen Gesundheit befasst, hat eine besondere Bedeutung bekommen. Dies hat zu dramatischen Verbesserungen sowohl in der Qualität wie auch der zu erwartenden Dauer des Lebens geführt.
  5. Konsumerismus: Hierbei geht es um den Lebensstil, bei dem der menschliche Konsum von Gütern und Dienstleistungen durch die allgemeine Bevölkerung sowie die permanente Erhöhung dessen im Mittelpunkt stehen. Ohne die hiermit verbundenen Nachfragesteigerungen hätten die Produktionsausweitungen nach der industriellen Revolution nicht absorbiert werden können.
  6. Arbeitsethik: Vor dem Aufkommen des Protestantismus in Europa wurde Arbeit vor allem als „Mittel zum Zweck“ oder sogar als etwas Erniedrigendes angesehen. Dies hat sich gewandelt hin zu einem Verständnis von Arbeit als moralischen Wert an sich: Sie selbst sowie die Schaffung von Vermögenswerten durch sie wurden von den Menschen als Lebenssinn verinnerlicht.
Während die aufstrebenden Länder Asiens sich zunehmend auf diese Prinzipien besinnen, verdrängt man einige in Europa (und teilweise in Nordamerika, wenn auch nicht in dem Ausmaß) mehr und mehr. Insbesondere zwei Entwicklungen sehe ich in diesem Zusammenhang als sehr kritisch an:
  • Ein zunehmendes Infragestellen des Wettbewerbs. Damit verbunden sind seine Substitution durch Regulierung sowie das Streben nach Abschottung.
  • Arbeitsethik wird immer mehr durch Anspruchsdenken verdrängt. Dieses bildet insbesondere in Verbindung mit dem nach wie vor starken Konsumerismus eine gefährliche Kombination.
Begründet sind diese Tendenzen mit einer tiefen Verunsicherung der europäischen Gesellschaften. Diese hat stark damit zutun, wie die Risiken einer sich ändernden Welt wahrgenommen werden.

Die europäische Risikogesellschaft: zwischen Paranoia, Verdrängung und Überreaktion

1986 veröffentlichte der Soziologe Ulrich Beck das Buch „Risikogesellschaft“. In diesem beschrieb er die steigende Bedeutung von Risiko und Unsicherheit in unserer Gesellschaft. Er schrieb: „In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“

Beck arbeitete gleichzeitig heraus, dass Risiken und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Welche Risiken Menschen für sich als relevant erachten, sah er als Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses, den die Massenmedien entscheidend mitgestalten. Als bedrohlich wahrgenommen werden in der Öffentlichkeit nicht die abstrakten Risiken selbst, sondern ihre konkrete Thematisierung durch Zeitungen, Fernsehen und andere Medien.

Obwohl die Welt durch technischen und medizinischen Fortschritt im Grunde immer sicherer wird, steigt trotzdem die Verunsicherung durch eine Inflation „gefühlter Risiken“, die durch die Berichterstattung in den Medien verursacht wird. Dies bringt eine Verzerrung in der Risikowahrnehmung mit sich: Risiken, die relativ unbedeutend sind, werden übersteigert wahrgenommen (wie man zum Beispiel in Europa Ebola oder SARS bekommt), was teilweise zu paranoiden Reaktionen führt. Signifikante Risiken hingegen werden regelmäßig verdrängt oder unterschätzt (wie etwa durch Bewegungsarmut und ungesunde Ernährung an Diabetes zu erkranken).

Beck sah eine der zentralen Herausforderungen für die Gesellschaft darin, wie sie mit neu entstehenden Risiken umgeht. Speziell, wenn sie zuerst verdrängt oder nicht richtig ernst genommen werden, besteht die Gefahr, dass bei ihrem Aufbrechen überregagiert wird: Staatliche Notfallmaßnahmen zur Risikoabwehr lassen sich dann oft nicht mehr rückgängig machen, was zu andauernden Beeinträchtigungen des menschlichen Lebens führt.

Ebenfalls gefährlich ist, wenn neue Entwicklungen blockiert werden, weil die mit ihnen verbundenen Veränderungen Ängste hervorrufen. Die teilweise paranoiden Abwehr-Reaktionen der europäischen Öffentlichkeit in Hinblick auf das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP sind das beste Beispiel hierfür. Beck befürchtete einen neuen Totalitarismus der Gefahrenabwehr, der die menschliche Freiheit immer weiter einschränken könnte. Wenn man die anschwellende Flut von immer mehr Regulierungen und Vorschriften in Europa sieht (und ihre lähmende Wirkung auf die Wirtschaft), dürfte er damit recht gehabt haben.

Europas fatale Romanze mit der Sicherheit

„Dies ist nicht ohne Risiken“ oder „die hiermit verbundenen Risiken sind unkalkulierbar“ lauten derzeit die Standardformulierungen in Kommentaren vieler Politiker, Ökonomen und Journalisten, wenn irgendwo Entscheidungen getroffen werden, mit denen sie nicht einverstanden sind. Dabei ist es ihnen relativ egal, ob es sich um unternehmerische Maßnahmen, Geldpolitik, Migration, neue Arzneimittel, Umweltschutz oder irgendetwas anderes handelt. Und erst recht ist es egal, ob es überhaupt Alternativen gibt. „Hauptsache kein Risiko“ scheint das Leitmotiv dieser Gedanken zu sein.

Das Eingehen von Risiken steht unter Generalverdacht. Hierin reflektiert sich die schizophrene Einstellung vieler Menschen in Europa: Alles soll sich verbessern, aber im Grunde trotzdem so bleiben, wie es ist. Dies geht in der Realität jedoch nicht, insbesondere wenn die Welt sich – wie im Moment – durch Globalisierung und technischen Fortschritt sehr dynamisch verändert. Wer in einem Prozess permanenter Wandlung meint, keine Risiken eingehen zu müssen, der verdrängt die fatalen Konsequenzen einer Verweigerung von notwendigen Veränderungen. „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“ hat Michael Gorbatschow 1989 den Reformverweigerern in Ost-Berlin ins Stammbuch geschrieben (Anmerkung: Das Zitat wird oft falsch als „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ wiedergegeben). Die Sucht nach Sicherheit führt jetzt im kapitalistischen Westeuropa zu ähnlichen Anzeichen der Erstarrung und Realitätsverdrängung, wie im Osteuropa vor dem Zusammenbruch des Sozialismus.