Kommentar von David Folkerts-Landau Wenn Zentralbanker die Orientierung verlieren

David Folkerts-Landau ist Chefvolkswirt und Global Head of Research der Deutschen Bank

David Folkerts-Landau ist Chefvolkswirt und Global Head of Research der Deutschen Bank

Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts haben sich die Zentralbanken als Hüter der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität entwickelt. Ihnen wurden die nötigen Kompetenzen verliehen, um unsere Währungen durch Drehen der Zinsschraube zu schützen. Einige Zentralbanken, wie die Bundesbank oder die amerikanische Federal Reserve, haben sich erheblichen Respekt verschafft, indem sie über viele Konjunkturzyklen hinweg und vielfach entgegen politischen Widerständen für eine stabile Geldpolitik gesorgt haben.

Doch selbst Zentralbanker können mal die Orientierung verlieren und zwar für gewöhnlich dann, wenn sie stur dem gerade gültigen wirtschaftlichen Dogma folgen. In einem solchen Fall können Fehlentscheidungen verheerende Folgen haben.

Ein Blick in die Geschichtsbücher

So wähnte sich die Reichsbank in den 1920er Jahren in dem Glauben, man könne zur Finanzierung der Staatsausgaben 2.000 Notenpressen rund um die Uhr laufen lassen, ohne eine Inflation zu riskieren. Etwa zur gleichen Zeit sah die Federal Reserve tatenlos zu, wie mehr als ein Drittel aller US-Einlagen durch Bankenpleiten vernichtet wurde, da sie der Meinung war, Bankenkrisen seien selbstregulierend. Die Folge war die Weltwirtschaftskrise.

Zugegeben, diese Fehltritte liegen fast hundert Jahre zurück. Doch trotz aller institutioneller Verbesserungen, allen voran der Unabhängigkeit der Zentralbanken, und trotz verlässlicherer Daten sowie ausgefeilterer theoretischer und ökonometrischer Modelle sieht die Lage heute leider nicht wesentlich anders aus. Gerade einmal zehn Jahre sind vergangen, seit der sogenannte Jackson-Hole-Konsens dazu führte, dass die Notenbanken ungezügeltes Kreditwachstum tolerierten.

Als Rechtfertigung für ihre Tatenlosigkeit verwiesen sie auf die Tatsache, dass die Inflation – zumindest mit Blick auf die traditionellen Indikatoren – unter Kontrolle war. Was dann geschah, ist bekannt.

Fehlleistungen der EZB

Kaum zu glauben also, dass die EZB und andere Zentralbanken nach so kurzer Zeit schon wieder einen Fehler begehen. Aktuell besteht die kapitale Fehlleistung darin, die geldpolitischen Zügel immer weiter zu lockern – bis hin zu negativen Zinsen – und nahezu jede Anlageklasse innerhalb der Eurozone anzukaufen.

Heute beruft man sich gerne auf das Dogma, mangelnde Nachfrage sei ausschlaggebend für die unbefriedigende Inflationsentwicklung. Hat man sich erst mal dieser Sichtweise verschrieben, lassen sich überall Argumente für die Notwendigkeit der derzeitigen Geldpolitik finden. Dieses Phänomen nennt man in der Verhaltensökonomie Bestätigungsfehler (confirmation bias). Abweichende Erklärungen werden abgetan.

Jene wie die EZB, die fest davon überzeugt sind, die einzig richtige analytische Sichtweise zu besitzen, bezeichnet Philip Tetlock in seinem Buch „Superforecasting – Die Kunst der richtigen Prognose“ als Igel (hedgehogs). In Kombination mit dem „group-think“-Phänomen erklärt sich, warum Mario Draghi und seine Kollegen ihre immer expansivere Geldpolitik auch mit dem Argument rechtfertigen, dass doch alle anderen Zentralbanken genauso handeln. Hält sich ein Problem, wie in diesem Fall die zu niedrige Inflation, beharrlich, kann das doch nur heißen, dass die Dosis der verabreichten Medizin einfach erhöht werden muss.

Das von der EZB in den vergangenen Jahren gezeigte Verhalten ist also durchaus verständlich. Dies gilt auch für die Tatsache, dass sie angesichts immer verzweifelterer Maßnahmen die Orientierung verloren hat.

Nachdem die Absenkung der Zinsen auf das niedrigste Niveau seit zwanzig Generationen nicht – wie erhofft – Wachstum und Inflation befeuerte, stürzte sich die EZB in das nächste Projekt: Quantitative Easing, das heißt den massiven Ankauf von Staatsanleihen aus der Eurozone. Doch die Verkäufer dieser Papiere nutzten dieses Geld der EZB nicht für Ausgaben oder Investitionen, sondern parkten es bei den Banken, die es wiederum als Einlagen bei der EZB platzierten.

Nach der internen Logik der EZB war damit die drastische Maßnahme, einen Strafzins auf Einlagen zu verhängen, zwangsläufig. Inzwischen wird fast die Hälfte der Staatsanleihen der Eurozone mit einer negativen Rendite gehandelt. Führt auch dies nicht zu höherem Wachstum und höherer Inflation, greift die Zentralbank ohne Zweifel zum Instrument des Helikoptergeldes. Studenten der Geschichte der Geldpolitik, werden bei ihrer Betrachtung dieser Ereignisse wohl ungläubig die Köpfe schütteln.

Verkannte Tragweite der Geldpolitik

Doch der geldpolitische Fehltritt der EZB beschränkt sich nicht auf die Zinsen. Mit dem sogenannten Outright Monetary Transactions Programme tritt sie außerdem als Ankäufer der letzten Instanz für Staatsanleihen auf und bürgt de facto für die Solvenz der Mitgliedstaaten.

Die Risikoaufschläge am Markt für Staatsanleihen sind damit nahezu verschwunden. Die Mitglieder der Eurozone müssen nicht länger einen Anstieg ihrer Finanzierungskosten fürchten, wenn sie Strukturreformen nicht auf den Weg bringen oder beim Schuldenabbau hinterherhinken.

Tatsächlich stieg bis zuletzt die Gesamtverschuldung in der Eurozone. Als Konsequenz werden dringend notwendige Reformen am Arbeitsmarkt, im Bankenwesen, in der Politik, im Bildungssektor und im Bereich der staatlichen Verwaltung verschleppt oder gleich ganz unterlassen.

Diese Fehler haben eine solche Tragweite, dass die Geldpolitik nun die größte Bedrohung für den langfristigen Erhalt der Eurozone darstellt. Erinnert man sich an Mario Draghis berühmten Satz, die EZB werde alles Notwendige tun, um die Währungsunion zu erhalten, erscheint dies Folgerung paradox. Doch der Versuch, Wachstum und Inflation durch immer niedrigere Zinsen und Anleihekäufe zu stimulieren, gleichzeitig aber jeden Anreiz für Strukturreformen zu nehmen, zieht enorme Verwerfungen nach sich.

Es drohen überall Stolperfallen. Die Inflation liegt nur knapp über null Prozent und damit deutlich unter dem Zielwert der EZB. Und angesichts schwacher Wachstumsraten ist die Verschuldung einiger Länder, allen voran Italien, nur dank der potentiellen Absicherung durch das OMT-Programm der EZB tragbar. Somit droht der EZB auch in Bezug auf ihre zugewiesene Aufgabe, für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und finanzielle Stabilität zu sorgen, ein Scheitern.