Lehre aus dem Brexit-Referendum Der Weg in die Isolation ist nicht nur für britische Wähler attraktiv

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Dennoch wird in Großbritannien vielfach geglaubt, dass der deutsche Erfolg auch auf Kosten des Inselreiches erzielt wurde. Aus deutscher Perspektive mag eine solche Einschätzung absurd anmuten; weil

a) die EU auch den deutschen Steuerzahler sehr viel Geld kostet (und zwar etwa 2,5 mal soviel wie den britischen);

b) der wirtschaftliche Erfolg vor allem auf Wettbewerbsfähigkeit beruht; sowie

c) auch in Deutschland vieles alles andere als perfekt läuft – vom Flughafenbau bis zum VW-Skandal.

Aber gerade ältere Briten verstehen nicht so recht, warum ausgerechnet das Land, welches vor 70 Jahren militärisch besiegt wurde, trotz aller Sonderbelastungen – wie durch die Wiedervereinigung, Eurokrise – wirtschaftlich immer stärker wird und Großbritannien inzwischen abgehängt hat. Deutschland ist ihnen unheimlich; und sie wollen es loswerden.

  • In der britischen Politik gab es unlängst viele umstrittene Entscheidungen beziehungsweise Skandale, die das Vertrauen in das Establishment erschüttert haben: die steuerliche Vorzugsbehandlung von ausländischen Großverdienern; Steuerdeals mit Konzernen wie Google oder Starbucks, die diesen legal eine günstige Besteuerung ermöglichten oder auch die Enthüllungen durch die Panama-Papers weckten großes Misstrauen.

    Unvergessen ist zudem ein Spesenskandal vor einigen Jahren, in den Spitzenpolitiker aller Parteien verwickelt waren. Insbesondere seit der Finanzkrise 2008 hat eine wachsende Anzahl von Briten das Gefühl, dass sich Andere auf ihre Kosten bereichern. Obwohl all dieses wenig mit der EU zu tun hat, gelang es, die hieraus resultierende Anti-Establishment-Stimmung für das Brexit-Referendum zu nutzen.

  • Die wirtschaftliche Entwicklung ist innerhalb Großbritanniens äußerst ungleich verlaufen: Während sich London sowie akademische Zentren wie Cambridge oder Oxford wirtschaftlich sehr dynamisch entwickelt haben, leidet speziell die englische Provinz nach wie vor unter den Folgen des Niedergangs der alten britischen Industrie. Außerhalb der Wachstumszentren geht es speziell der Arbeiterklasse beziehungsweise der unteren Mittelschicht spürbar schlechter als vor 20 Jahren.

    Viele Menschen sehen in der EU-Integration den Sündenbock. Dieser Eindruck wurde in der Brexit-Kampagne von einem inländischen Establishment unterstützt, das von eigenen Fehlleistungen ablenken wollte. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass die Basis der Brexit-Bewegung vor allem ältere Menschen der Mittelschicht aus der englischen Provinz bilden, die sich persönlich als ökonomische Verlierer ansehen.

    Gerade diese Gruppe war für die Warnungen von Ökonomen vor dem Brexit unempfänglich: Ihrer Ansicht nach haben nur inländische Eliten und ausländische Unternehmen bei einer ökonomischen Isolation etwas zu verlieren. Sie hingegen glauben, bei einer Bevorzugung der regionalen Wirtschaft besser zu fahren.

  • Die Möglichkeit der Verdrängung durch Migranten wird gerade von vielen Briten aus der Arbeiterklasse als reale Gefahr empfunden. Seit der EU-Osterweiterung 2004 ist Großbritannien speziell das Ziel vieler polnischer Einwanderer geworden. Derzeit sollen etwa 850.000 Polen in Großbritannien arbeiten – immerhin 2 Prozent der Staatsbürger des osteuropäischen Landes.

    Polnische Handwerker waren nicht zuletzt deshalb sehr erfolgreich, weil sie ihren Job zumeist billiger und zuverlässiger erledigen als heimische Anbieter. Damit haben sie ohne Zweifel inländische Arbeitsplätze vernichtet … und gefährden noch auch weitere. Die Verdrängung ineffizienter Anbieter durch bessere ist zwar ein normaler marktwirtschaftlicher Prozess, wenn hiervon aber nur Ausländer zu profitieren scheinen, ist bei den Verlierern der Wunsch nach Abschottung verständlich.

  • „Wir wollen die Kontrolle zurück“ war einer der Schlachtrufe der Austrittsbefürworter, die sich von intransparenter EU-Regulierung bevormundet fühlten. Damit zielten sie auf einen der großen Schwachpunkte der EU: Sie hat sich in den letzten Jahren zu einem kafkaesken Bürokratiemonster entwickelt, dem nicht nur die Briten zutiefst misstrauen.

    Allerdings waren sie mit ihren ständigen Sonderwünschen und Ausnahmeregeln selbst nicht ganz unschuldig am Regulierungschaos. Zudem hieße ein Abschied von der EU nur, dass europäische Bürokratie durch heimische ersetzte wird; und durch neue Regeln im Umgang mit Europa alles eher noch komplizierter wird.

  • Gerade viele ältere Briten glauben, dass Großbritannien als ehemalige Weltmacht und Gewinner von zwei Weltkriegen ökonomisch stark genug sein müsste, um ohne Europa zu bestehen. Damit unterliegen sie aber einer besonders gravierenden Ausprägung von Selbstüberschätzung. Denn die frühere Stärke endete, als Großbritannien nicht mehr Kolonien ausbeuten konnte.

    Eine eigenständige britische Industrie ist nach der Ära Thatcher kaum noch existent; beispielsweise Automobilfabriken haben nur als Töchter internationaler Konzerne überlebt. Diese sind integrierte Bestandteile eines global organisierten Produktionsprozesses – und wären durch die Wiedereinführung von Handelsschranken äußerst negativ betroffen.

    Wettbewerbsstärken hat Großbritannien heutzutage im Finanzwesen, in der Forschung und Bildung sowie bei kreativen Medienberufen. Gerade diese relativ starken Branchen werden durch einen Brexit unmittelbar geschwächt.

  • Das öffentliche Meinungsbild wurde stark durch die europafeindliche Berichterstattung vieler britischer Zeitungen sowie die Demagogie diverser Politiker beeinflusst. So wurde Angst geschürt, dass bei einem angeblich unmittelbar bevorstehenden EU-Beitritt der Türkei eine riesige Welle von Arbeitsimmigranten droht.

    Weiterhin versuchte zum Beispiel der konservative Politiker Michael Gove die Warnungen von Ökonomen vor dem Brexit öffentlich zu diskreditieren, in dem er ihnen entgegenhielt: „Die britische Öffentlichkeit hat genug von sogenannten Experten, die sowieso immer alles falsch prognostizieren“. Weiterhin verglich er sie mit Nazi-Wissenschaftlern, die ideologisch beeinflusste Gefälligkeitsgutachten abgeben.

  • Ein Brexit schien allen Unzufriedenen mit dem Befreiungsschlag „EU-Austritt“ einen einfachen Ausweg anzubieten: Das Rad der Geschichte wird zurückgedreht. Man wird deutsche Bessermacher, südeuropäische Geldvernichter und Brüsseler Bürokraten mit einem Schlag los. Der lästige Wettbewerb durch ausländische Unternehmen wird gestoppt. Kein Pole nimmt mehr Arbeitsplätze weg.

    Dass die Dinge in einer komplexen Welt möglicherweise nicht ganz so einfach sind und man sich mit dem Versuch, vor allem wegzulaufen, wahrscheinlich am meisten selbst schadet, wurde verdrängt.