Das Thema Nachhaltigkeit liegt in aller Munde. Während in den Industrieländern bereits vorherrschende Strukturen der Produktion und des Wirtschaftens im Sinne der ressourcenschonenden Nachhaltigkeit umgestaltet werden müssen, besteht in den Schwellen- und Entwicklungsländern das Potenzial, nachhaltige Wirtschaftskreisläufe von Anfang an in eine Wachstumsstrategie zu integrieren und so fest zu etablieren.
Überhaupt können die globalen Nachhaltigkeitsziele wie die Pariser Klimaziele nur erreicht werden, wenn alle an einem Strang ziehen. Ohne eine nachhaltige Gestaltung der Wirtschaft in den Emerging Markets, mit ihren aufstrebenden Volkswirtschaften, einer jungen und stark wachsenden Bevölkerung und erheblichen Ressourcen an Rohstoffen und Naturreservaten, werden auch die Nachhaltigkeitsbemühungen hierzulande hinfällig. Denn wie wir spätestens in der Corona-Krise gelernt haben, werden lokale Probleme auf der anderen Seite des Globus schnell zu Problemen von globalem Ausmaß, wenn sie nicht gemeinsam behoben werden.
ESG ist auch in den Schwellenländern ein Thema
Die Notwendigkeit zu einer nachhaltigen Transformation haben auch viele Schwellenländer bereits erkannt. So hat die chinesische Regierung verkündet, Klimaneutralität bis 2060 anzustreben, Indien will dies bis 2070 erreichen. Gemäß dem Ranking zur Erfüllung der 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen durch die Universität Cambridge von 2022 haben die nordeuropäischen Länder Finnland, Dänemark, Schweden und Norwegen in Sachen Nachhaltigkeit die Nase vorn. Auch das ein oder andere Schwellenland wie Südkorea (Platz 27), Chile (Platz 28) oder Thailand (Platz 44) findet sich in den Top 50. Die USA haben es als wirtschaftsstärkstes Land in diesem Ranking nur auf Platz 41 geschafft.
Laut dem jüngsten Sustainable Development Report der University of Cambridge hat die Corona-Krise den globalen Fortschritt in Bezug auf das Erreichen der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zurückgeworfen. Durch die ökonomischen Verwerfungen der Pandemie hat sich die Armut besonders in den ärmeren Ländern vergrößert. Dadurch wurden von den 17 Zielen für Nachhaltige Entwicklung besonders Ziel 1 „Keine Armut“ sowie Ziel 8, „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“, negativ getroffen. Im Zeitraum von 2015 bis 2019 – also vor Ausbruch der Corona-Pandemie – ist der durchschnittliche SDG-Index-Wert jährlich um 0,5 Punkte pro Jahr gewachsen, wobei vor allem ärmere Länder einen höheren Beitrag dazu geleistet haben. Auch der Ukraine-Krieg droht laut dem Bericht den Fortschritt zur Erreichung der 17 SDGs zu behindern, da Investitionen in nachhaltige Projekte gekürzt werden.
Herausforderungen und Chancen bei ESG-Aktien aus Schwellenländern
Auch wenn der gegenwärtige geopolitische Konflikt in der Ukraine und die damit verbundenen Folgen wie die Energiekrise das Thema Nachhaltigkeit überschatten, wird Nachhaltigkeit ein globaler Megatrend bleiben. Unternehmenslenker weltweit haben erkannt, dass Nachhaltigkeit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor ist, der für die Attraktivität eines Unternehmens und der angebotenen Produkte gegenüber Kunden, potenziellen und angestellten Mitarbeitern, Geschäftspartnern, aber auch für den Kapitalmarkt mitentscheidend ist. ESG wird für Anleger immer mehr zum Standardkriterium, was auch die Entwicklung der Regulierung untermauert. Seit August dieses Jahres sind beispielsweise Anlageberater in der Europäischen Union durch die EU-Offenlegungsvereinbarung dazu verpflichtet, die Nachhaltigkeitspräferenzen der Anleger bei der Beratung im Vorhinein mitabzufragen.
Um den Fortschritt eines Unternehmens in Sachen Nachhaltigkeit analysieren und bewerten zu können, bedarf es möglichst umfassender und geprüfter Daten zum ökologischen Fußabdruck, der sozialen Nachhaltigkeit und zu Governance-Aspekten eines Unternehmens. Bei Schwellenländern werden oft fehlende Umwelt- und Sozialstandards sowie eine mangelhafte Datengrundlage für ESG-Reportings angeführt. Während lückenhafte Umwelt- und Sozialstandards auf andere Probleme wie Armut zurückzuführen sind, kann man hinsichtlich der ESG-Daten nicht alle Unternehmen aus den Emerging Markets in einen Topf werfen.
Um als börsennotiertes Unternehmen von einer ESG-Ratingagentur bewertet werden zu können und damit überhaupt investierbar für ESG-orientierte Investoren zu werden, muss ein Unternehmen auch in den Schwellenländern seine Hausaufgaben machen und konsistente Informationen liefern. Hier kann die Bevorzugung von ESG-konformen Wertpapieren als Treiber für eine nachhaltige Entwicklung in Unternehmen wirken.
Erste Initiativen zu ESG-Datenstandards starten in Schwellenländern
Dass selbst in den entwickelten Märkten einheitliche Daten zur Erfüllung von Nachhaltigkeitsstandards noch Mangelware sind, zeigt die EU-Regulierung beispielhaft auf. So waren in der EU bisher nur größere kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern dazu verpflichtet, einen Nachhaltigkeitsbericht zu veröffentlichen. Mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), die 2024 in Kraft treten wird, werden alle in einem EU-regulierten Markt notierten Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe, und weitere nicht-börsennotierte Unternehmen in die ESG-Berichtspflicht miteinbezogen.
Viele Unternehmen fühlen sich jedoch noch nicht dafür ausreichend vorbereitet. Laut einer Umfrage von Workiva gaben zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland an, für die anstehende ESG-Berichtspflicht nicht gewappnet zu sein. Einige Schwellenländer haben ebenso eine stärkere Regulierung der ESG-Berichterstattung eingeführt: So werden beispielsweise in Indien die 1000 nach Marktkapitalisierung größten Unternehmen verpflichtet, ab dem Finanzjahr 2022-2023 einen Nachhaltigkeitsbericht (Business Responsibility and Sustainability Report) zu liefern.
Speziell in den Schwellenländern kann ein hohes ESG-Rating ein Indikator für eine hohe Finanzkraft des Unternehmens sein. Denn nur wenn ein Unternehmen finanziell gut aufgestellt ist, sind Investitionen in die ökologische Transformation und die Implementierung und Kontrolle eigener sozialer und Governance-Standards möglich.
Neben den Herausforderungen beim nachhaltigen Anlegen in Schwellenländern bieten sich Anlegern auch vielfältige Chancen. Durch das Investieren in nachhaltige Aktien aus Schwellenländern kann häufig in wachstumsstarke Unternehmen mit relativ zu Aktien der entwickelten Märkte günstigeren Bewertungen angelegt werden. Neben aufstrebenden heimischen Märkten mit einer sich etablierenden Mittelschicht profitieren diese Unternehmen des Weiteren von einer internationalen Kundschaft. Darüber hinaus handelt es sich bei den nachhaltigen Unternehmen zumeist um innovative Player, die die hohe Bedeutung von Nachhaltigkeit erkannt haben. Anleger können durch diese ESG-Champions aus den Schwellenländern ihr Portfolio diversifizieren. Ein ESG-Blick auf Schwellenländer-Unternehmen kann deshalb sogar helfen, Risiken zu minimieren.
Eine nachhaltige Anlagestrategie in Unternehmen der Schwellenländer bietet zum Beispiel der Global Challenges Index Emerging Markets der Börse Hannover, der Anfang Juli dieses Jahres neu aufgelegt wurde. Das Portfolio besteht aus 50 bis 100 mittel- bis großkapitalisierten Unternehmen aus den Schwellenländern. Neben Ausschluss- und Best-In-Class-Kriterien auf Basis der Bewertung durch die Nachhaltigkeits-Researchagentur ISS ESG wird bei der Auswahl der Aktien auch geprüft, ob die Unternehmen einen positiven Beitrag zu den sieben von der UN und der EU definierten Handlungsfeldern Klimawandel, Armut, Trinkwasser, Biodiversität, Bevölkerungsentwicklung, Entwaldung und Governance leisten. Ein unabhängiger Experten-Beirat prüft regelmäßig die Zusammensetzung des Portfolios und das Anlagekonzept. Aktuell sind die asiatischen Länder Taiwan mit rund 32 Prozent, Indien mit rund 25 Prozent und Südkorea mit rund rund 15 Prozent am höchsten gewichtet (Stand: 25. Oktober 2022).
Anleger sollten die vielfältigen Chancen, die sich durch ESG-Aktien-Investments in den Schwellenländern bieten, nicht verpassen, aber sich natürlich auch der Risiken bewusst sein. Auf dem Pfad zu einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung gilt es eben, noch einige Schlaglöcher zu umfahren, doch langfristig lohnt sich dieser Weg.
Über den Gastautor:
Jens Pludra ist Aktienfondsmanager bei Warburg Invest. Er managt unter anderem den WI Global Challenges Emerging Markets Index Fonds, über den er in Aktien aus den Schwellenländern investiert. Warburg Invest ist Tochterunternehmen und Asset Manager der Privatbank M.M.Warburg & CO.