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ESG-Vorurteile Warum Schwellenländer und Nachhaltigkeit zusammenpassen

Nachhaltige Textilproduktion in Indien

Nachhaltige Textilproduktion in Indien: In den vergangenen Jahren haben viele Unternehmen aus den Schwellenländern in Sachen ESG erhebliche Fortschritte gemacht. Foto: imago images / Joerg Boethling

Anthony Kettle, BlueBay AM

Nachhaltigkeitsaspekte werden in der täglichen Arbeit von Vermögensverwaltern immer wichtiger. Für diejenigen, die sich auf Schwellenländer (Emerging Markets, EM) spezialisiert haben, sind viele ESG-Überlegungen bereits seit langer Zeit Standard. Anleihe-Emittenten aus den aufstrebenden Volkswirtschaften werden häufig genauer unter die Lupe genommen als jene aus den entwickelten Ländern. Das ist insbesondere auf das Umfeld zurückzuführen: Faktoren wie Unternehmensführung und politische Hintergründe spielen seit Jahren eine entscheidende Rolle bei der Fundamental- und Risikoanalyse von EM-Anleihen – sowohl bei Staats- als auch bei Unternehmenspapieren.

Die Erweiterung der traditionellen Analyse um die dezidierte Berücksichtigung von ESG-Kriterien ist daher eine natürliche und nahtlose Entwicklung. Das neueste Element: Umweltfaktoren. Hier haben Investoren, die im aktiven Dialog mit Emittenten stehen, ihr Engagement zuletzt deutlich ausgebaut.

Ein Viertel des globalen Anleihemarkts

Schwellenländer repräsentieren knapp 60 Prozent der Weltwirtschaft und 75 Prozent des globalen Konjunkturwachstums – doppelt so viel wie noch vor 20 Jahren. Außerdem stehen Anleihen aus den aufstrebenden Volkswirtschaften mit einem Volumen von mehr als 2 Billionen US-Dollar für etwa ein Viertel des gesamten Anleihemarkts.

Die Rolle von Emittenten aus Schwellenländern wird daher unweigerlich an Bedeutung für die globale wirtschaftliche und nachhaltige Entwicklung gewinnen. Wie in den entwickelten Volkswirtschaften haben sich viele Regierungen und Unternehmen bereits in unterschiedlichem Maße entsprechenden Zielen verpflichtet. Wir sind davon überzeugt, dass Investoren für das Erreichen der Ziele eine wichtige Rolle spielen können.

Unternehmen offen für ESG-Dialog

So überraschend es klingen mag: Unsere Erfahrungen zeigen, dass Emittenten aus Schwellenländern trotz ihres oft schwächeren ESG-Profils offener für das Engagement von Investoren sind, als man denken könnte. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass einige von ihnen nur wenige alternative Finanzierungsquellen jenseits der Kapitalmärkte haben. Außerdem haben wir festgestellt, dass Anleihegläubiger Unternehmen für die Relevanz von Transparenz und Dialog sensibilisieren können. 

In den vergangenen Jahren haben viele Unternehmen aus Schwellenländern erhebliche Fortschritte in Sachen Nachhaltigkeit gemacht. Bestimmte Sektoren verfügen naturgemäß über eine stärkere ESG-Bilanz. Das gilt sowohl in Asien als auch in Lateinamerika insbesondere für den Bereich erneuerbare Energien. Andere Branchen, besonders ressourcenintensive, haben herausforderndere ESG-Profile. Doch auch hier ist die Bereitschaft groß, sie kontinuierlich zu verbessern. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Emissionen nachhaltiger Anleihen in letzter Zeit zugenommen haben – vor allem im Industriesektor, der eher am schwächeren Ende des ESG-Spektrums angesiedelt ist.

Auch immer mehr staatliche Emittenten erkennen den Einfluss, den ESG-Kriterien auf ihre Finanzierungskosten haben können, wodurch sich weitere Möglichkeiten für einen Dialog ergeben.

Positive ESG-Entwicklungen können aber nicht nur dazu beitragen, dass sich das Kreditprofil von Emittenten verbessert: Es ergeben sich auch neue Anlagechancen. In den vergangenen Jahren haben wir bei nachhaltigen Anleihen einen Aufschwung erlebt (siehe Grafik 1). Der Trend hat über die typischen Sektoren wie erneuerbare Energien hinaus an Fahrt gewonnen. Mittlerweile kommen auch aus den Branchen Zementherstellung, Petrochemie und Autoteile grüne Emissionen. Das zeigt nicht nur, dass die Relevanz von ESG zunimmt – sondern auch, dass sich das Spektrum für Anleger vergrößert.

Grafik 1: Emissionen nachhaltig orientierter Anleihen in den Schwellenländern

Quelle: Bank of America. Stand: April 2021

Vorsicht vor Greenwashing

Anhand des Trends lässt sich feststellen, wie schnell der Markt neue Chancen ergreift. Außerdem zeigt sich, dass Nachhaltigkeit ein immer wichtigeres Argument bei der Kapitalbeschaffung wird. Allerdings mehren sich auch berechtigte Bedenken hinsichtlich Greenwashing. Wir können nicht oft genug betonen, wie wichtig es ist, dass Anleger nicht nur nachhaltige Labels berücksichtigen – zumal es noch keine einheitliche Definition für die Festlegung oder Messung von ESG-Kennzahlen gibt.

In den Schwellenländern kommt hinzu, dass ESG-Ratings oft inkonsistent sind oder sich lediglich auf die Vergangenheit beziehen. Umso wichtiger ist es, die Expertise von Spezialisten zu nutzen, die einzelne Unternehmen tiefgreifend analysieren und ihre Erkenntnisse im Kontext eines ESG-Rahmenwerks anwenden können.

Vielzahl interessanter Anlagechancen

Viele Marktteilnehmer denken, dass sich Nachhaltigkeit und Schwellenländer widersprechen. Die mangelnde Transparenz einiger Unternehmen mag sicherlich eine Herausforderung darstellen. Aber: Bestimmte ESG-Aspekte stehen in Zusammenhang mit dem Einkommensniveau und betreffen daher unverhältnismäßig stark ärmere Länder – die wahrscheinlich am stärksten auf Kapitalflüsse angewiesen sind. Der eher statische Ansatz der ESG-Ratings der Agenturen hat diese Wahrnehmung noch verstärkt, da sie nicht zwischen dem aktuellen Niveau des ESG-Risikos und der Entwicklungsrichtung unterscheiden.

In den vergangenen Jahren haben wir beobachtet, dass das Engagement für Umwelt, Soziales und Unternehmensführung sowohl bei Emittenten als auch bei Investoren in den Schwellenländern zugenommen hat. Selbst wenn es noch viel zu tun gibt: Wir sind der festen Überzeugung, dass die aufstrebenden Volkswirtschaften eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der globalen ESG-Investmentlandschaft spielen werden. Das dürfte eine Vielzahl interessanter Anlagemöglichkeiten schaffen.

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