Deutschland sieht sich zwei gegensätzlichen Faktoren ausgesetzt: Auf der einen Seite könnten die deutschen Exporte weiterhin durch die anhaltend hohen Zinsen und die nachlassende Konjunktur in China belastet werden. Auf der anderen scheint der durch die Pandemie und den Ukraine-Krieg ausgelöste Terms-of-Trade-Schock abgeklungen zu sein, was etwas Druck von der Wirtschaft nehmen sollte.
Ein genauer Blick auf die deutsche Fertigung zeigt: Deutschlands passt sich den neuen ökonomischen Begebenheiten an. Kurzfristig mag es noch Druck auf energieintensive Bereiche geben. Mittel- bis langfristig mehren sich aber die Anzeichen, dass die deutsche Industrie sich mit Low-Carbon-Technologien etabliert.
Produktion unter Druck?
Wie die monatlichen Zahlen der Bundesbank zur Industrieproduktion zeigen, sank die Produktion des verarbeitenden Gewerbes bis zum Jahresende 2023 stark. Besonders schwach war es um Gebrauchsgüter bestellt, hier ging die Produktion um 5 Prozent im vierten Quartal und um 11 Prozent im Jahresvergleich zurück. Wesentliche Hindernisse wie die engeren finanziellen Bedingungen und die Ungewissheit über die chinesischen Wirtschaftsaussichten zwingen die Industrie, sich anzupassen. Zudem sorgt eine alternde Bevölkerung für Fachkräftemangel und hohe Kosten.
Lagerstände lassen hoffen
Trotzdem könnten die Daten der Bundesbank den tatsächlichen Zustand der deutschen Industrie zu schwarzmalen. Dies zeichnet sich in der Bruttowertschöpfung (BSW) ab, der Wert der produzierten Waren ohne Input- und Materialkosten. Hier weisen die Schätzungen darauf hin, dass das verarbeitende Gewerbe 2023 widerstandsfähiger war, als es den Anschein hatte. Möglicherweise sind die Unternehmen zu höherwertigen Produkten übergegangen.
Auch wenn der konjunkturelle Abschwung die deutsche Wirtschaft auf breiter Front getroffen hat, musste das verarbeitende Gewerbe weniger zurückstecken als andere Branchen wie zum Beispiel das Baugewerbe oder der Einzelhandel. Das zeigen Daten des Instituts für Wirtschafsforschung (Ifo). Im Vergleich zur Finanzkrise (2008/2009) oder der Corona-Pandemie ist die Lage ebenfalls weniger dramatisch. Jüngste Anstiege im Ifo-Geschäftsklimaindex lassen sogar die Vermutung zu, dass binnen der nächsten sechs bis neun Monate die Produktion ansteigen könnte. Die aktuellen Lagerbestände deuten in diese Richtung.
Positionierung zu China verändert sich
Deutschland ist nach wie vor eine der wichtigsten Exportnationen: Die Handelsbilanzquote von über 80 Prozent schlägt sowohl die der anderen europäischen Länder (im Durchschnitt zwischen 50 und 60 Prozent) als auch die der Vereinigten Staaten und China (beide zwischen 20 und 30 Prozent). Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch: Deutschland ist also nach wie vor sehr abhängig vom Welthandel.
Kalter Wind könnte hier aus dem Osten wehen: Chinas schwache Konjunktur in Kombination mit anhaltend hohen Zinsen ergeben ein beschwerliches Umfeld. Zwar werden deutsche Unternehmen vom Land der Mitte langsam weniger abhängig, dennoch ist die Produktion weiterhin auf chinesische Importe angewiesen. Zudem hat China die eigenen Exporte in andere Länder erhöht und somit den globalen Wettbewerb für deutsche Exporteure verschärft.
Beispiel Automobilbranche: Chinesische Autohersteller konkurrieren mit deutschen sowohl technologisch als auch auf der Kostenseite. Als Reaktion darauf hat die EU-Kommission im vergangenen Jahr eine Antisubventionsuntersuchung gegen chinesische Hersteller von Elektrofahrzeugen eingeleitet. Diese Untersuchung dauert noch an und könnte zu bescheidenen Zöllen seitens der Europäischen Union führen, was wiederum Vergeltungsmaßnahmen der chinesischen Regierung auslösen könnte. Deutschland sollte einen solchen Handelsstreit vermeiden, es kann dabei nur verlieren.
Energiewende als Chance
Ausgeblieben sind indes die vielfach prophezeiten Energieschocks durch den Ukraine-Krieg. Die deutsche Regierung konnte die hohe Abhängigkeit von russischem Gas mit Zukäufen aus anderen Regionen kompensieren und hat gleichzeitig in die eigene Flüssiggasinfrastruktur investiert. Obwohl der Umbau des Energiesektors auf saubere Energie holprig verläuft, ist er ein Bereich voller Innovationen. Inzwischen ist Deutschland die führende G7-Nation im Bereich der CO2-armen Technologien im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Fortschritte machen auch neuere Industrien wie die Batterieproduktion oder die Solarbranche inklusive der Photovoltaikkomponenten.
Deutschland ist zweifelsfrei von entscheidender Bedeutung für die europäische Wirtschaft – insbesondere, da die Europäische Union Zweifel an ihrer Wachstumsfähigkeit zu zerstreuen sucht. Technologische Innovation, Handel und eine solide geopolitische Präsenz sind für das Gedeihen der EU unerlässlich – und dafür steht Deutschland.
Über den Autor:
Arne Tölsner ist Leiter Kundenbetreuung (Head of Client Group) der Capital Group in der DACH-Region. Bevor Tölsner 2023 zu Capital wechselte, war er als Vertriebsleiter für Deutschland, die Schweiz und Österreich bei Allianz Global Investors tätig. Davor war er globaler Leiter der Produktspezialisten bei Allianz Global Investors.