Versicherungsmathematiker warnen „Keine Pensionskasse bleibt vom Tiefzinsumfeld verschont“

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Ohne diese Flexibilisierung brauchen viele Pensionskassen möglicherweise mehr Geld. Wo soll das herkommen?

Lucius: So wie die betriebliche Altersversorgung in Deutschland angelegt ist, kann das Geld nur von den Trägerunternehmen kommen, die als Arbeitgeber für die Zusagen einstehen müssen. Und aus aktuarieller Sicht kann ich den Trägerunternehmen nur dringend empfehlen, den Wunsch nach der Bereitstellung zusätzlicher Mittel ernst zu nehmen. Viele Trägerunternehmen haben sich auch bereits zu dieser Verantwortung bekannt.

Vor großen Herausforderungen stehen Einrichtungen mit heterogener Trägerstruktur und die Pensionskassen, bei denen es einige Trägerunternehmen beispielsweise aufgrund von Insolvenzen schlichtweg nicht mehr gibt. Hier muss der Gesetzgeber Lösungen finden. Denn eines muss ganz klar gesagt werden: Keine Pensionskasse bleibt vom Tiefzinsumfeld verschont. Die Sanierung einer Pensionskasse durch Leistungskürzungen geht in der Regel mit einem vollständigen Verbrauch der Eigenmittel und damit einem weitgehenden Verlust der Risikotragfähigkeit der Kasse einher. Es folgen Neugeschäftsverbot und Abwicklung der Einrichtung. Das ist schlussendlich die teuerste Lösung für die Arbeitgeber. Und sollte kein Arbeitgeber mehr existieren, der für die Kürzung aufkommt, ist dies auch die schlechteste Lösung für die Versorgungsberechtigten. Beides geht in jedem Fall einher mit einem massiven Vertrauensverlust, der der gesamten bAV schadet. Daher müssen wir solche größten anzunehmenden Unfälle unbedingt vermeiden.

Sie betonen immer wieder die Verantwortung der Arbeitgeber. Wie beurteilen Sie die rechtlichen Rahmenbedingungen, damit Arbeitgeber dieser Verantwortung nachkommen können?

Oecking: Leider sind die Rahmenbedingungen noch nicht so, wie wir uns das wünschen und wie es für den Erhalt der Leistungs- und Funktionsfähigkeit der versicherungsförmigen bAV erforderlich ist. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Versorgungseinrichtung sind die fundamentalen Eckpfeiler der mittelbar durchgeführten bAV. An vielen Stellen wird im Aufsichtsrecht aber verkannt, dass die bAV nicht nur ein einfaches Versicherungsvertragsverhältnis zwischen Pensionseinrichtung und Arbeitnehmer ist, sondern dass der Arbeitgeber als Versicherungsnehmer und letztlich haftender Garantiegeber eine zentrale Rolle und Funktion hat.

Schon seit einiger Zeit fordern wir für die versicherungsförmige Durchführung, dass der aufsichtsrechtliche Dreiklang „Versicherer – Versicherter – Versicherungsnehmer“ um den arbeitsrechtlichen Dreiklang „EbAV – Arbeitnehmer – Arbeitgeber“ erweitert wird. Insbesondere setzen wir uns für aufsichtsrechtliche Regelungen ein, die den Pensionskassen zusätzlichen Gestaltungsspielraum einräumen mit dem Ziel, die Arbeitgeber nicht zu überfordern – und zwar sowohl organisatorisch als auch finanziell. 

An welchen Stellen sehen Sie weiteres Konfliktpotenzial?

Oecking: Nehmen wir als Beispiel die Beitragszusage mit Mindestleistung. Hier verlangt das Arbeitsrecht, dass die eingezahlten Beiträge zu Rentenbeginn garantiert werden. Die aktuelle Zinssituation ist aber so, dass eine Pensionskasse die damit verbundene Zinsgarantie unter Umständen aufsichtsrechtlich gar nicht mehr gewähren darf. Heißt: Die arbeitsrechtlichen Vorgaben sind so, dass Zusagen gar nicht mehr versicherungsförmig durchführbar sind. Oder betrachten Sie die sogenannten Änderungsvorbehalte in den Satzungen oder Allgemeinen Versicherungsbedingungen von Pensionskassen, wonach die Kasse im Fall von unvorhersehbaren ungünstigen Entwicklungen Tarifanpassungen mit Wirkung für künftige Beitragszahlungen vornehmen kann.

Diese Änderungen des Versicherungsvertragsverhältnisses können im arbeitsrechtlichen Versorgungsverhältnis aber nicht ohne Weiteres nachvollzogen werden. Das ist insbesondere im Bereich der Entgeltumwandlung kritisch. Arbeitgeber werden so gegebenenfalls gezwungen, für Beiträge weiterhin Leistungen zu gewähren, die die Pensionskasse so nicht mehr gewähren kann oder darf. Der Versicherungsvertrag und die Versorgungszusage laufen auseinander. Wir Aktuar*innen sehen darin einen Verstoß gegen das arbeitsrechtliche Wertgleichheitsgebot bei Entgeltumwandlungen.

Und wie könnte hier eine Lösung aussehen?

Die Garantievorstellungen des Arbeitsrechts sind infolge des Niedrigzinses mit den Anforderungen des Aufsichtsrechts einfach nicht mehr vereinbar und müssen dringend nach unten angepasst werden. Für die Beitragszusage mit Mindestleistung können wir uns auch Garantien in der Größenordnung von 50 Prozent der Beiträge vorstellen.