Heinz-Horst blieb nicht bei seinem Leisten. Der Schuster aus Essen-Borbeck, eigentlich Doktor der Medizin, verabschiedete sich schnell von ihnen. Sein Vater Heinrich hatte 1913 den familieneigenen Schuhmacherladen gegründet, Heinz-Horst baute ihn zusammen mit seiner Mutter zu einem Handelskonzern aus. Filiale über Filiale eröffnete Heinz-Horst, auch sein Sohn Heinrich, benannt nach seinem Opa, tat es ihm gleich. Die Leisten, die Firmengründer Heinrich als Schuster 1913 noch brauchte, spielten da keine Rolle mehr.
Private-Wealth-Anbieter diversifizieren Dienstleistungen
Den oft strapazierten und im übertragenen Sinne gemeinten Leisten des Schusters verstecken die Anbieter im Private Wealth Management schon lange. Stattdessen gibt es viel größere Versprechen. Kleine Auswahl gefällig? Gleich mehrere Wealth Manager vereinnahmen die „ganzheitliche Beratung“ für sich, der ein oder andere hat stattdessen eine „360-Grad-Beratung. Die Private-Wealth-Angebote hätten eine „konsequente Ausrichtung“ nach Kundenzielen, manch ein Anbieter spricht sogar von „maßgeschneidert“. Der Schuster aus Essen-Borbeck wäre sicher stolz.
Das Streben nach einer eigentlich ganzheitlichen Beratung treibt das Private Wealth Management um. Schon vor fünf Jahren gaben 13 von 14 Banken im Rahmen einer Zeb-Studie an, einen ganzheitlichen Ansatz bei Beratung und Produkten zu bieten. Der Leisten, bei dem der Schuster doch bleiben sollte, der schimmert hin und wieder trotzdem noch durch: „Im klassischen Private Banking steht die Vermögensstrukturanalyse an erster Stelle“, heißt es bei einem Anbieter. Bei einem anderen: „Unser Private-Banking-Team richtet sein ganzes Können und Wissen auf die Entwicklung Ihres Vermögens aus.“ Das zeigt, was manchmal in Vergessenheit gerät: Das Private Wealth Management hat seinen Ursprung in der Vermögensberatung und -verwaltung. Und: Bei Kunden kommen vor allem diese Dienstleistungen an. So erklärten im Jahr 2019 in der schon genannten Zeb-Studie acht von zehn Kunden, dass sie ihre Bank vor allem im Bereich Wertpapier wahrnehmen.
Vermögensverwaltung dominiert
Daran hat sich fünf Jahre später kaum etwas geändert. Trotz aller Maßschneiderungs- und Ganzheitlichkeitsbeteuerungen spielt die Vermögensverwaltung eine, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle im inzwischen eher noch verschärften Wettbewerb um Kunden. Jedenfalls zeigt das eine EY-Studie: Die Wertentwicklung einer Vermögensverwaltung ist für 37 Prozent der Wealth-Management- und Privatbank-Kunden Haupttreiber bei der Wahl ihres Anbieters. Dieses Ergebnis lässt sich aber auch positiv auslegen. Denn die Aussage der Private-Wealth-Kunden aus der EY-Umfrage könnte ja auch so gedeutet werden, dass eine Vermögensverwaltung mit guter Wertentwicklung für eine gute Positionierung im Wettbewerb schon ausreicht.
„Differenzierungsmöglichkeiten gibt es genug – tatsächlich sogar mehr als früher“, meint mit Blick auf die Vermögensverwaltung Karsten Junge von Consileon, einem Management- und IT-Berater, der Anbieter im Private-Wealth-Management als Kunden hat. Er ergänzt: „Man sollte auch nicht vergessen, dass ein rein auf Vermögensverwaltung fokussierter Anbieter allein aus der Spezialisierung heraus Vorteile generieren kann.“

Alle anderen könnten sich über Gewichtungen und Produkteinsätze differenzieren. Und: Auch in der EY-Studie nennen die Kunden den Produkteinsatz als zweitwichtigsten Entscheidungsgrund. Auf der anderen Seite setze die Regulierung die Leitplanken innerhalb des Portfoliomanagements immer enger, argumentiert Christian Pohl, Leiter der deutschen Private Bank bei Citi: „Dies macht eine Differenzierung aus Bankensicht im Wettbewerb schwieriger, sieht man von individuellen Vermögensverwaltungen ab, die ab bestimmten Losgrößen angeboten werden.“
Kostendruck keine Neuigkeit
Diese Standardisierung korreliert natürlich mit den Kosten, die für 23 Prozent der von EY befragten Kunden bei der Anbieterwahl entscheidend sind. Und auch das Streben nach „Ganzheitlichkeit“ und „360 Grad“ steht damit vielleicht im Zusammenhang. Denn: Der Kostendruck macht sich bei den Anbietern bemerkbar. „Eine gute Performance erleichtert natürlich die Weitergabe von Kosten“, verweist auch Klaus Sojer, Leiter Private Banking bei der M.M. Warburg & CO., auf die Wertentwicklung. Sie sei aber nur begrenzt hilfreich: „Regional stellen wir einen teils starken Wettbewerb fest, der eine angemessene Bepreisung erschwert.“ Die Vermögensberatung ist wegen der Mifid-Vorgaben ohnehin nur noch mit Mehraufwand darstellbar, auch bei der Kerndienstleistung Vermögensverwaltung nimmt der Druck zu.

Viele Anbieter rutschen bei der Vergütung eines Mandats regelmäßig unter die Marke von 100 Basispunkten, rein digitale Anbieter rangieren teilweise deutlich darunter. Auch neue Anbieter punkten gerne über niedrigere Gebühren und setzen damit im Zweifel eine Kaskade von Kostensenkungen in Gang. Natürlich variieren diese Gebühren je nach verwendeten Produkten, Höhe des investierten Volumens und Beratungsmodell. Tendenziell heißt es aus der Branche jedoch, dass die durchschnittlichen Vergütungen sinken.
„Aufgrund des sehr starken Wettbewerbs gestaltet sich die Kostendurchsetzung im Bereich Vermögensverwaltung schwierig“, bestätigt Philipp Stodtmeister vom Bankhaus Ellwanger & Geiger – schließlich treibe die Aussicht auf stetige Provisionseinnahmen die Banken ohnehin in das Geschäftsfeld. Und der Wettbewerb scheint auch nach der Zinswende weiter anzuhalten. „Gerade institutionelle Kunden und Family Offices haben eine sehr hohe Markttransparenz – darauf haben wir uns eingestellt“, erklärt dazu Stefan Meine, der in der Geschäftsleitung der Bethmann Bank das Kundenressort verantwortet.
Bausteine für die Beratung
Die genauen Gebühren für die Vermögensverwaltung lassen sich nur schwer quantifizieren. Gleichzeitig untermauern die wenigen verfügbaren Untersuchungen des Markts den Kostendruck: Die Beratungsagentur Zeb verwies in ihrer Private-Banking-Studie 2022 auf die sinkenden Ertragsmargen – die sich mit steigenden Kosten und geringerem Vermögenswachstum nicht recht vertragen.
Ertragspotenziale neben dem Wertpapiergeschäft zeigt Zeb zwar auch auf – die Ganzheitlichkeit wird jedoch schnell ausgebremst. „Weil wohlhabende Kunden oft mehrere Bankbeziehungen pflegen, haben Private Banker und Vermögensverwalter selten mehr als 40 bis 50 Prozent des Vermögens im Blick“, erklären die Zeb-Manager Jens Wiegel und Sören Schmeinck und ergänzen: „Meist beschränkt sich dies auf das klassische Wertpapiervermögen.“ Der eingangs erwähnte Leisten des Schusters lässt grüßen.
Dass der Gedanke von der Ganzheitlichkeit nicht falsch ist, sehen nicht nur Wiegel und Schmeinck so. Bei einer offenen Umfrage des private banking magazins antworteten nur 11 Prozent der fast 500 Teilnehmer, dass die Vermögensverwaltung in jedem Fall ausreiche, um sich am Markt differenzieren zu können. Immerhin 29 Prozent der Teilnehmer gaben an, dass eine Vermögensverwaltung bei guter Performance einen Wettbewerbsvorteil verschaffe. Aber: Über die Hälfte geht davon aus, dass es mehr Angebote brauche, um im Wettbewerb als Private-Wealth-Anbieter bestehen zu können.
Vermögen first
„Originäre Bausteine für ein solches erweitertes Angebot sind eine ganzheitliche Finanzplanung sowie ein tiefes Verständnis für die individuellen Bedürfnisse und Zielsetzungen des Kunden“, erklärt Sebastian Schäfer, Leiter Wealth & Private Banking im Bereich Financial Services Consulting bei EY Deutschland. Gerade bei der genannten Finanz- oder Nachlassplanung oder Fokusgruppen für Stiftungen, Philanthropie, Unternehmer oder die nächsten Generationen haben mittlerweile zahlreiche Institute Fortschritte gemacht. So verweist ein Großteil der von der Redaktion befragten Entscheidungsträger aus dem Private-Wealth-Management auf entsprechende Angebote.
„Unsere Vermögensnachfolgeplaner beispielsweise unterstützen unsere Kunden bei den Themen Erben und Vererben, finanzielle Vorsorge oder auch bei einer Stiftungsgründung“, erklärt etwa Carsten Kahl, der das Wealth Management und Private Banking bei der Hypovereinsbank leitet. Man beziehe alle Vermögensbestandteile – auch abseits von Wertpapieren und Immobilien – in die Finanz- und Vermögensplanung ein. EY-Mann Schäfer erklärt mit Blick auf weitergehende Angebote: „Auf dieser Grundlage kann die Leistungspalette personalisiert und erweitert werden, beispielsweise durch Angebote im Bereich der Finanzierungen oder Alternative Investments in Reits, Private Equity oder Venture Capital.“
Produkte in der Vermögensverwaltung, die nicht nur einen Wertpapier-Fokus haben, liegen für viele Banken nahe. Das bestätigt auch das Vorgehen der LGT Bank. Man habe Kunden etwa Zugänge zu den Private Markets verschafft, erklärt Florian Dürselen, Mitglied der Geschäftsleitung der LGT Bank, und erklärt: „In den letzten Jahren haben wir unseren Fokus auf Impact Investing und nachhaltige Anlagen erweitert.“ Auch kleinere Bankhäuser gaben gegenüber der Redaktion an, die Vermögensverwaltung um weitere Anlageklassen zu erweitern – dann aber über Partnerschaften und Kooperationen.
Make or buy or cooperate
Schließlich wandele man bei neuen Produkten auf einem schmalen Grat, erklärt Consileon-Berater Junge: „Es gibt unzählige Beispiele, in denen Anbieter Lösungen aus dem Boden gestampft haben, die dem Vergleich mit den Angeboten spezialisierter Wettbewerber nicht standgehalten haben oder die vom eigenen Vertrieb schlicht ignoriert wurden.“ Auch Marcus Vitt, Vorstandssprecher von Donner & Reuschel, erkennt zwar neue Entwicklungen und Themen bei Kunden, schränkt jedoch ein: „Nur selten entsteht daraus aber direkt die Notwendigkeit neuer Dienstleistungen.“
Stattdessen bringe man immer wieder auch Kooperationspartner aus dem eigenen Netzwerk ein. Abseits der um neue Anlageklassen erweiterten Vermögensverwaltung und -planung verweisen vor allem größere Banken gerne auf die anderen Geschäftsbereiche. Dazu gesellen sich dann teilweise auf den ersten Blick untypische Geschäftsfelder. Beratung zu Kunst oder Oldtimern beispielsweise, Kredite für den eigenen Jet – oder ein Concierge Service. „Darunter können eingängige Services wie die Buchung eines Traumurlaubs oder die Rundum-Betreuung bei einem Umzug an einen neuen Ort fallen“, erklärt Tobias Vogel, Vorstandsvorsitzender der UBS Europe.
Bepreisung bleibt Problem
Dass nicht alle Banken entsprechende Dienstleistungen anbieten können und müssen, dürfte auch Vogel klar sein. Steigt aber die Vermögenshöhe der Kunden, können entsprechende Angebote durchaus zum Differenzierungsfaktor und damit zum „Muss“ werden, meint EY-Experte Schäfer: „Nur wenn diese Dienstleistungen mit angeboten werden, kann man den Bedürfnissen dieser höchst anspruchsvollen Kundengruppe gerecht werden.“ Schwierig wird dann allerdings die Frage nach der Bepreisung. Angebote wie Vermögensplanung oder das Reporting gehören fast zum guten Ton, während Dienstleistungen aus anderen Banksparten ohnehin einzeln vergütet werden.
Beispiel Merck Finck: „Einige Dienstleistungen, zum Beispiel Immobilientransaktionen oder Spezialthemen der Vermögensplanung, können zwar separat bepreist werden, andere Zusatzdienstleistungen und Services sind aber im Rahmen unseres Qualitätsversprechens an unsere Kunden inkludiert“, argumentiert Rainer Wörz, der das Wealth Management bei der deutschen Quintet-Marke leitet. Consileon-Berater Junge verweist auf Vergütungsstandards, die sich teilweise schon am Markt etabliert hätten: „Diesem kann man entweder folgen – zum Beispiel bei den Honoraren für Finanzplanung – oder man kann die Leistung für bestehende Kunden teilweise oder gänzlich subventionieren.“ Beides habe Vor- und Nachteile, die die Anbieter jeweils einzeln bewerten müssten.
Maßgeschneiderte Abwägungen
Wie viel Zusatzdienstleistungen also am Ende richtig sind, ist nicht nur von den Kunden, sondern auch von den Anbietern selbst abhängig.
Übrigens: In den zig Filialen der ehemaligen Schuhmacherei von Heinz-Horst, dem Schuster aus Essen-Borbeck, spielen die einst so wichtigen Leisten zwar keine große Rolle mehr. Wohl aber Schuhe verschiedener Hersteller, teilweise Mode und Taschen oder Schuhdeos und -sohlen. Der Schuster aus Essen-Borbeck blieb also nicht bei seinem Leisten. Doch wer mag das der Familie Deichmann schon verdenken.