Neues Kapitel für Europa? Das Ende des US-Exceptionalism

Richard Halle, Value-Fondsmanager bei M&G Investments

Richard Halle, Value-Fondsmanager bei M&G Investments, sieht große Chancen an Europas Aktienmärkten Foto: M&G Investments

Noch bevor die am „Liberation Day“ angekündigten Zollmaßnahmen von US-Präsident Trump im April die Finanzmärkte erschütterten, erlebten europäische Aktien eine Art Renaissance. Der Stoxx Europe 600 Index erreichte im März ein Allzeithoch , während US-Aktien an Boden verloren. Selbst nach den jüngsten Kursrückgängen liegen europäische Aktien in diesem Jahr noch immer vor ihren US-Pendants.

Europas Aktienmärkte starteten schon vor dem Zollchaos durch

Doch die Handelskonflikte setzen die globalen Märkte unter Druck. Die Welt muss mit den Schockwellen von Trumps Zöllen zurechtkommen: Die Finanzmärkte sind von mehreren Seiten unter Druck geraten und die Aussichten für die Weltwirtschaft bleiben ungewiss.

Europäische Unternehmen und die europäische Wirtschaft sehen sich nicht nur US-Zöllen ausgesetzt, sondern auch einem möglichen Überangebot an chinesischen Waren, die ursprünglich für den US-Markt bestimmt waren. Die Gefahr eines ausgewachsenen Handelskriegs trübt insofern die kurzfristigen Perspektiven, langfristig gibt es aber Gründe für Optimismus. 

Anleger haben insbesondere aufgrund der deutlichen Bewertungslücke zwischen den beiden Märkte  ihren Fokus in diesem Jahr wieder vermehrt auf Europa gerichtet. Historisch gesehen wurden europäische Aktien mit einem Abschlag gegenüber ihren US-Pendants gehandelt. Die Wiederwahl von Donald Trump im November 2024 trieb die bereits hoch bewerteten US-Märkte auf neue Höchststände. Die Bewertungsschere ging auf ein selten gesehenes Niveau auseinander.

 

Seit Jahresbeginn und verstärkt durch die jüngsten Zollstreitigkeiten hat der Optimismus gegenüber den USA merklich nachgelassen. Man könnte argumentieren, dass die Vorstellung von der Sonderstellung der USA übertrieben war: Die US-Wirtschaft wurde durch massive fiskalische Impulse angekurbelt – das Defizit des US-Bundeshaushalts liegt bei über 6 Prozent des BIP  – die auch den Konsum stützten.

Während das Department of Government Efficiency (DOGE) versucht, die Staatsausgaben unter Kontrolle zu bringen, lösen die von Präsident Trump vorgeschlagenen Einwanderungs- und Zollpolitiken Sorgen über eine wirtschaftliche Abkühlung aus. In dieser Situation sind Anleger zunehmend auf der Suche nach Alternativen zu den teuren US-Aktien.

Aber es sind nicht nur attraktive Bewertungen, die Europa für Anleger wieder interessant machen. Es gibt auch tiefgreifende makroökonomische Veränderungen, die die langfristigen Aussichten des Kontinents verbessern dürften.

„Viele der Unternehmen, die von einer möglichen Reindustrialisierung und Aufrüstung Europas profitieren, finden sich im derzeit unbeliebten Value-Segment.“ 

Die europäischen Politiker wurden durch den offensichtlichen Wunsch von Präsident Trump, das militärische Engagement der USA in Europa zu reduzieren, zum Handeln gezwungen. Das von Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigte 500 Milliarden Euro schwere Konjunkturpaket sieht Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung vor sowie eine Lockerung der Schuldenbremse, um die Verteidigungsausgaben zu erhöhen.

Immense Verteidigungsausgaben können kräftigen Aufschwung bringen

In Kombination mit dem Vorschlag der Europäischen Union, die gemeinsamen Verteidigungsausgaben um 800 Milliarden Euro aufzustocken, könnten diese Maßnahmen einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung auslösen und das Investitionsklima in Europa nachhaltig verändern. 

Aus Sicht eines Value-Investors sind dies besonders spannende Entwicklungen. Viele der Unternehmen, die von einer möglichen Reindustrialisierung und Aufrüstung Europas profitieren, finden sich im derzeit unbeliebten Value-Segment. Von Stahlherstellern bis hin zu Zement- und Bauunternehmen – viele dieser Industrien hatten in den letzten Jahren mit schwachen Märkten zu kämpfen. Nun könnten sie vor einem Wendepunkt stehen.

Ein anderer günstig bewerteter Sektor, der von einer breiten Konjunkturerholung und einem Anstieg der Kreditvergabe profitieren könnte, sind die europäischen Banken. Zwar könnte die europäische Wirtschaft kurzfristig unter den US-Zöllen leiden, doch die geplanten fiskalischen Stimuli könnten diesen Effekt ausgleichen und der europäischen Wirtschaft in den kommenden Jahren kräftigen Auftrieb verleihen.

Der Value-Investmentstil war lange Zeit in Ungnade gefallen. Sollte sich die europäische Wirtschaft tatsächlich stabilisieren und die Investitionsbereitschaft zurückkehren, könnten diese vernachlässigten Marktsegmente wieder mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Angesichts der anstehenden Konjunkturmaßnahmen und der Vielzahl attraktiv bewerteter Unternehmen scheinen die langfristigen Aussichten für Value-Investoren vielversprechend.

Auch nach dem Zollstreit bleibt die optimistische Aussicht für Europa

Die Schlagzeilen werden derzeit von den Zollstreitigkeiten dominiert, und die Unsicherheit über den weiteren Verlauf ist groß. Sobald sich aber die Lage stabilisiert und die neue Ära des globalen Handels klarere Konturen annimmt, könnten sich Investoren wieder auf die Trends besinnen, die bereits vor den Zöllen an Dynamik gewonnen hatten – insbesondere die Erholung der europäischen Aktienmärkte.

Angesichts des deutlichen Bewertungsabschlags gegenüber den US-Märkten und der fundamentalen Veränderungen in der europäischen Wirtschaft sehen wir die langfristigen Aussichten der europäischen Region positiv. Trotz der Risiken durch Zölle, Rezession und den Krieg in der Ukraine glauben wir, dass sich derzeit ein positives Szenario für Europa entwerfen lässt – und wir sind besonders optimistisch, dass das nächste Kapitel für die Region zahlreiche Chancen für Value-Investoren bereithält.

Über den Autor:

Richard Halle ist erfahrener Value-Manager beim britischen Fondsanbieter M&G. Halle lenkt den Aktienfonds M&G (Lux) European Strategic Value Fund (ISIN: LU1670707527).

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