Lindy-Regel Warum Investoren öfter auf Bewährtes setzen sollten

Christian Kahler, geschäftsführender Gesellschafter der Kahler & Kurz Capital, über die Widerstandskraft von Unternehmen mit langer Historie.

Christian Kahler, geschäftsführender Gesellschafter der Kahler & Kurz Capital, über die Widerstandskraft von Unternehmen mit langer Historie. Foto: Kahler & Kurz Capital

Krisen, Umbrüche und Disruption sind nichts Neues. Schon immer sind Unternehmen Wandel und Wettbewerbsdruck unterworfen, wenige überleben Jahrzehnte. Der Wissenschaftler Geoffrey West vom Santa Fe Institute stellte fest, dass von den fast 29.000 Unternehmen, deren Aktien zwischen 1950 und 2009 an den US-Börsen gehandelt wurden, 50 Prozent nach nur zehneinhalb Jahren wieder verschwunden waren. Bis 2009 waren sogar fast 80 Prozent verschwunden. Neuere empirische Untersuchungen legen nahe, dass US-Unternehmen nur noch eine Lebensdauer von 15 bis 20 Jahren haben – in den 1970er Jahren waren es noch über 30 Jahre.

Wenn aber nur wenige Unternehmen lange überleben, stellt sich die Frage, warum es unter den Überlebenden einige gibt, die sehr alt oder fast unsterblich geworden sind.

Der Lindy-Effekt als wirkungsvolles Konzept

Hier kommt eine einfache, aber wirkungsvolle Heuristik ins Spiel: die Lindy-Regel. Das Konzept ist nach dem Café Lindy's Delicatessen in New York benannt. Dort trafen sich in den 1960er Jahren Comedians, Schauspieler, Agenten und Kritiker, um darüber zu diskutieren, welche Stücke am Broadway gespielt werden, welchen künstlerischen Wert sie haben und um Wetten abzuschließen, wie lange sich ein Stück halten wird. Dabei entdeckt man ganz nebenbei (zumindest, wenn man dem Mathematiker Benoit Mandelbrot glaubt) einen Zusammenhang, den Ihre Großmutter schon lange als Aussage „Alte Besen kehren gut“ kannte, der aber erst Jahrzehnte später als Lindy- Effekt wissenschaftlich untersucht wurde:

Wie lange sich ein Stück am Broadway hält, hängt der Regel zufolge davon ab, wie lange es schon
gespielt wird. Läuft ein Stück seit zehn Tagen, so beträgt der Erwartungswert für die verbleibende Laufzeit zehn Tage. Läuft es seit 100 Tagen, so wird es wahrscheinlich noch weitere 100 Tage laufen und so weiter.

 

Der Lindy-Effekt wirkt in vielen Bereichen des Lebens, aber nicht allen Phänomene, die dem Lindy-Effekt unterliegen, altern in die entgegengesetzte Richtung – je älter sie sind, desto länger ist ihre Restlebensdauer. Mit jedem Jahr, das sie überleben, erhöht sich ihre erwartete Restlebensdauer um ein weiteres Jahr. Wenn ein Buch seit 50 Jahren erfolgreich ist, ist es wahrscheinlicher, dass es weitere 50 Jahre erfolgreich sein wird, als wenn es erst seit einem Jahr erfolgreich ist. Es ist also kein Zufall, dass sich im Alltag Aktivitäten wie intermittierendes Fasten, Meditation oder Hanteltraining dauerhaft halten, während viele neue Trends nach kurzer Zeit scheitern.

Die Lindy-Regel ist kein eisernes Gesetz, aber eine Faustregel, die man anwenden kann, wenn man über die Aussichten der nächsten glitzernden App nachdenkt, die die Welt revolutionieren soll. Denken Sie daran, dass die E-Mail lange vor der SMS-Technologie eingeführt wurde, und die E-Mail gibt es immer noch, während die SMS fast ausgestorben ist.

Lindy und die ältesten Unternehmen der Welt

Unternehmen durchlaufen einen Zyklus von Geburt, Wachstum, Reife, Verfall und Tod. Während die Lebenserwartung der Menschen steigt, verkürzt sich der Lebenszyklus vieler Unternehmen, wie Studien des Santa Fe Institute und anderer zeigen. Auf der anderen Seite gibt es  Unternehmen, die Jahrzehnte und Jahrhunderte überdauert haben. Das älteste Unternehmen der Welt war das japanische Bauunternehmen Kongo Gumi, das sich auf den Bau buddhistischer Tempel spezialisiert hatte. Bis zu seiner Übernahme im Jahr 2006 war das Unternehmen über 1.400 Jahre im Geschäft. In Europa ist das St. Peter Stiftskulinarium in Salzburg seit der Zeit Karls des Großen im Geschäft, also seit über 1.200 Jahren tätig.

Ist die Denkfalle „survivorship bias“ am Werk?

Der geneigte Leser wird an dieser Stelle den sogenannten „survivorship bias“ wittern, eine
kognitive Verzerrung, der besagt, dass die Unternehmen, die es nicht geschafft haben, bei der Betrachtung der heutigen Gewinner ausgeblendet werden. Aber darum geht es hier nicht. Vielmehr darum, dass je länger ein Unternehmen existiert, desto höher ist die implizite Wahrscheinlichkeit, dass es noch länger existieren wird. Das liegt daran, dass die Unternehmen, die am längsten überlebt haben – indem sie mehrere Konjunkturzyklen und Wettbewerber überlebt haben – die robustesten sind und daher am wenigsten wahrscheinlich untergehen.