Ungleichheits-Debatte Die Reichsten haben mehr Vermögen als gedacht

Wie aus zwei unabhängig voneinander veröffentlichten Studien hervorgeht, wird der Wohlstand der Superreichen zu gering eingeschätzt. Ein Teil ihrer Reichtümer ist in Steueroasen versteckt; zudem antworten die Milliardäre nicht auf Umfragen, wie aus den Untersuchungen von Philip Vermeulen, einem Volkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) beziehungsweise von Gabriel Zucman von der London School of Economics hervorgeht. Werden Einkommensdaten um vergleichbare Unzulänglichkeiten bereinigt, dann erweist sich nach einer Analyse der Weltbank, dass fast der gesamte zwischen 1998 und 2008 erzielte Fortschritt beim Abbau des Ungleichgewichts zwischen Arm und Reich weltweit zunichte gemacht wurde.

“Wir haben schon immer geahnt, dass das reichste Prozent zu niedrige Zahlen angibt”, sagt Volkswirt und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, der Verfasser des Buches “Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht”. “Immer mehr sind der Überzeugung, dass unser System manipuliert und unfair ist.”

Wenn die tatsächlichen Ausmaße von Wohlstand und Einkommen nicht richtig erfasst werden können, wird es Volkswirten und politischen Entscheidungsträgern schwer gemacht, das Ungleichgewicht zu verstehen und damit umzugehen. So könnten beispielsweise andere Steuerstrukturen eher durchzusetzen sein, wenn bekannt würde, dass Einkommen und Vermögenswerte stärker konzentriert sind, sagt Zucman.

“Wenn wir nicht richtig erkennen, wie die Welt aussieht, fällt es auch schwer zu sagen, wie sich eine bestimmte Maßnahme auswirken könnten”, erläutert Carter Price, Mathematiker am Center for Equitable Growth in Washington, das sich mit Themen der wirtschaftlichen Ungleichheit beschäftigt. “Auch zurückblickend ist es schwer, Auswirkungen von Maßnahmen zu bestimmen.”

In den USA hielten die Reichsten der Reichen - die obersten 0,1 Prozent mit einem Nettovermögen von mindestens 20 Millionen Dollar - im Jahr 2012 23,5 Prozent des Gesamtvermögens der Amerikaner, sagt Zucman. Er war zuvor von 21,5 Prozent ausgegangen, fügte dann jedoch Schätzungen für im Ausland versteckte Gelder hinzu.

Umfragedaten zu den Superreichen insgesamt fallen ebenfalls zu niedrig aus, schreibt Vermeulen in seinem Bericht vom Juli. Das oberste Prozent hielt seinen Nachforschungen zufolge im Jahr 2010 35 bis 37 Prozent des Vermögens - die US-Notenbank geht von lediglich 34 Prozent aus.

Die größere Konzentration von Einkommen und Wohlstand an der Spitze könnte erklären, warum sich die Verbraucherausgaben seit dem Ende der Rezession Juni 2009 so langsam erholen, sagt Stiglitz. “Ein Teil der Probleme bei der Erholung des Wirtschaftssystems ist auf das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit zurückzuführen - nicht die gemessene Ungleichheit”, sagt er.

Seit dem Ende der Rezession in den USA hat der Mass Merchant Index von Bloomberg Industries, der Discounter wie Wal-Mart Stores und Dollar General erfasst, 80 Prozent zugelegt, während es für den marktbreiten Standard & Poor’s 500 Index 109 Prozent aufwärts ging. Die Luxushändler im Global Luxury Goods Index von Bloomberg Industries, der Unternehmen wie Coach, Hermes International und Prada umfasst, haben um 254 Prozent gewonnen.

Jeffrey Hollender, der zum wohlhabendsten Prozent in den USA zählt, ist nicht überrascht, dass die Reichsten mehr besitzen als aktuell geschätzt wird. “Je mehr Geld man hat, umso einfacher ist es, es zu verstecken und Steuern zu umgehen”, sagt der Co-Gründer des Konsumgüterkonzerns Seventh Generation. Er ist Mitglied von Responsible Wealth, einem Netzwerk, das sich für wirtschaftliche Fairness einsetzt.

In Europa könnte die Berechnung des Wohlstands der Superreichen Zucman zufolge sogar noch fehlerhafter sein als in den USA. Die Reichen des alten Kontinents haben 10 Prozent ihrer Reichtümer auf Auslandskonten geparkt, verglichen mit 4 Prozent bei den Amerikanern, schätzt er in seinem Bericht. Zudem haben stecken Superreichen Geld in Stiftungen und Holdinggesellschaften, wodurch die Berechnung noch schwieriger wird. Es ist möglich, dass einige europäische Länder, “wie vor allem Großbritannien” im Vergleich zu den USA “fast ebenso ungleich - oder sogar noch ungleicher” sind, erklärt Zucman. Offizielle Daten deuten hingegen auf eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstands hin.

Vermeulen merkt in diesem Zusammenhang an, dass europäische Erhebungen Unzulänglichkeiten bei der Datenlage weniger stark korrigieren als amerikanische, weshalb viele von ihnen deutlicher daneben liegen. In Österreich beispielsweise besaß im Jahr 2013 das reichste Prozent der Bevölkerung 36 Prozent des Vermögens, wenn Daten aus dem Milliardärs-Index von Forbes eingerechnet werden. Das sind 13 Prozentpunkte mehr als eine Umfrage ergab. Die Verteilung wäre damit ähnlich ungleich wie in den USA.

Wenn Einkommen und Wohlstand der Superreichen nicht erfasst werden, zahlen sie weniger Steuern. In den USA hat dies zur Folge, dass dem Staat jährlich 36 Milliarden Dollar an nicht gezahlten Einkommens-, Kapitalertrags-, Erbschafts- und Nachlasssteuern verloren gehen, schätzt Zucman. Diese Summe würde ausreichen, um allen Schülern in New York City mehr als ein Jahrhundert lang ein Mittagessen zu zahlen. In Europa summieren sich die entgangenen Steuern Zucman zufolge sogar auf 75 Milliarden Dollar.

Die Konzentration an der Spitze und die mangelhafte Verständnis des Ungleichgewichts sind nach Ansicht von Dal LaMagna besorgniserregend. Der Konzernchef von Icestone ist wie Hollender Mitglied von Responsible Wealth. “Es ist nicht gut, dass die Reichen in Central Park West oder der 5th Avenue mit so viel Geld herumsitzen und alle anderen sie hassen”, sagt er mit Blick auf die bevorzugten Wohngebiete der Wohlhabenden in New York. “Dieser Zustand hält sich nur dank der Unwissenheit.”

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