Künstliche Intelligenz (KI) ist das große Wirtschaftsthema unserer Zeit. Seit der Markteinführung des generativen Sprachmodells Chat GPT Ende November 2022 ist um KI geradezu ein Hype entstanden. Auch Asset-Management-Unternehmen nutzen Sprachmodelle. Für die reine Vermögensverwaltung umfassender nutzbar sind allerdings prädiktive KI-Modelle. Denn Risikomanagement und Renditeprognosen funktionieren vor allem mit prädiktiver KI, die wiederum generative Komponenten enthalten können.
Insbesondere Renditeprognosen sind hochkomplex und unsicher, weil die Finanzmärkte hochgradig dynamisch sind, sich oft zufällig entwickeln und stark von externen Faktoren – mitunter Schocks – beeinflusst werden. Wer angesichts dessen erwartet, dass KI beispielsweise Aktienkurse präzise vorhersagt, täuscht sich. Hit-Ratios von knapp über 50 Prozent gelten – wie bei herkömmlichen Methoden für Aktienkursprognosen auch – bereits als echter Erfolg.
Vielleicht die Königsdisziplin unter den KI-Anwendungen
Künstliche Intelligenz kann also unter anderem bei Kursprognosen mit herkömmlichen Verfahren mithalten, obwohl KI noch in den Kinderschuhen steckt. Dennoch bezweifeln bislang noch viele Finanzfachleute der etablierten Schule, dass KI das Asset Management wirklich verbessern kann. Meist basieren KI-Ergebnisse, die in der Wahrnehmung solcher Finanzexperten schlecht sind, auf falschen Erwartungen. Richtig ist: KI kann Anlagestrategien und ihre Umsetzungseffizienz deutlich verbessern. Allerdings ist auch klar, dass die KI-basierte Kapitalanlage eine sehr schwierige Disziplin ist. Vielleicht ist sie sogar die Königsdisziplin unter den Anwendungsmöglichkeiten von KI.
Skepsis gegenüber KI im Asset Management mag auch ein Grund dafür sein, weshalb der Hype um KI der Milliardensummen in die Erforschung und Entwicklung von KI-gestützten Systemen fließen lässt, sich im Volumen KI-gesteuerter Fonds aber noch nicht widerspiegelt. So sind die zwei größten KI-gesteuerten deutschen Publikumsfonds, die im Plexus-AI-Outperformance-Index geführt sind, der Tungsten Trycon AI Global Markets mit derzeit rund 135 Millionen Euro Fondsvolumen und der FP Artellium Evolution mit 115 Millionen Euro Assets under Management.
Daten zum Plexus-AI-Outperformance Index veröffentlicht Plexus Investments seit März 2019 monatlich (alle bisherigen Ausgaben finden Sie hier). Bereits im Jahr 2017 hat Plexus seine KI-Denkfabrik gegründet, um das gerade aufgekommene KI-Segment in der Vermögensverwaltung unter die Lupe zu nehmen, KI-Strategien zu identifizieren, KI-Fonds-Manager zu prüfen und die Performance von KI-Fonds im Vergleich zu ihren Benchmarks zu messen. Zudem zeigt die AI-Outperformer Ratio den Anteil jener KI-Fonds, die ihre Benchmark in bestimmten Zeiträumen übertreffen. Der Index und die Ratio sind ein Spiegel der KI-Reife im Finanzsektor.
Die Resultate des Tungsten Trycon AI Global Markets und des FP Artellium Evolution können sich durchaus sehen lassen: Seit Aufnahme in den Index im Juli 2019 und Oktober 2021 haben sie eine Performance von 19,8 und 15,8 Prozent Performance erzielt. Dies entspricht im Schnitt 3,7 und 5,7 Prozent pro Jahr. Mit ihrer tiefen Volatilität von jeweils 4,8 Prozent bieten die beiden Fonds den Investoren also ein attraktives Rendite-Risiko-Profil.
Hohe Qualität der Forschung zu KI im Asset Management
Wie solche Leistungen zustande kommen, erklären Wissenschaftler und Praktiker seit dem Jahr 2021 auf der jährlichen Plexus-Konferenz „Artificial Intelligence in the Financial Sector“. Die vierte Konferenz fand im Mai statt. Zum Programm gehörte die Verleihung des Plexus-Förderpreises für Künstliche Intelligenz in der Finanzwirtschaft an drei junge Forscher:
- Mathis Mörke, Postdoktorant an der Schweizer Universität St. Gallen,
- Konrad Müller, Associate bei der Investmentbank JP Morgan in London sowie Doktorand am Londoner Imperial College und
- Valentin Hasner, Absolvent der Universität St. Gallen in der Schweiz und der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Die Jurymitglieder waren Walter Farkas, Professor für Quantitative Finance am Institut für Banking and Finance der Universität Zürich und assoziiertes Mitglied des Departements Mathematik an der ETH Zürich, Christof Kutscher, Verwaltungsratspräsident der Bergos und Mitglied des Verwaltungsrats der Carmignac, sowie Stefan Mittnik, Professor für Finanzökonometrie, bis 2020 Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitgründer des digitalen Finanzdienstleisters Scalable Capital.
Die Arbeiten der drei Förderpreisgewinner zeigen, dass KI-Modelle in einem breiten Asset-Management-Spektrum qualitative Verbesserungen bringen. Besonders ermutigend ist, dass sich viele Hochschulen nicht nur intensiv mit KI-Forschung beschäftigen, sondern auch die praktische Umsetzung zur Lösung finanzwirtschaftlicher Probleme vorantreiben. Dadurch wird die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis immer enger und die Breite der mit KI analysierten Themen grösser. Wann KI-Tools zum Mainstream werden, ist nur noch eine Frage der Zeit.
Fallbeispiel 1: Derivate mit Machine Learning besser verstehen
Förderpreisgewinner Mathis Mörke widmet seine Dissertation „Essays in Derivative Markets“ (322 Seiten, in englischer Sprache) fünf Themen: Für zwei der fünf Essays hat er Machine-Learning-Techniken verwendet, um Renditen in Optionsmärkten besser zu verstehen. Die Optionsmärkte wurden im Vergleich zu den Aktien- und Bondmärkten lange vernachlässigt – auch wegen ihrer hohen Komplexität. Mittlerweile werden sie immer bedeutsamer. Die Handelsvolumina etlicher Optionen sind sogar höher als die Handelsvolumina bei ihren Basiswerten. Kein Wunder, dass Investoren zunehmend interessiert sind, ob Optionsrenditen vorhersehbar sind. Und wenn ja, wie.
- Im Essay „Option Return Predictability with Machine Learning and Big Data“ befassen sich Mathis Mörke und seine Co-Autoren mit Renditetreibern bei Optionen auf Einzeltitel. Sie haben die wichtigsten Treiber identifiziert und das Zusammenspiel verschiedener Treiber beleuchtet. Ergebnis: Machine Learning ermöglicht eine bessere Vorhersehbarkeit von Optionsrenditen sowie höhere Renditen als Handelsstrategien, die ohne Machine Learning auskommen – weil die Technologie Nichtlinearitäten und Interaktionseffekte zwischen den einzelnen Treibern aufdeckt.
- Im Essay mit dem Titel „An Autoencoder Based Factor Model for Option Returns“ hat sich Mathis Mörke Optionen auf den S&P 500-Index gewidmet. Dafür hat er ein neuartiges, mit neuronalen Netzen ausgestattetes Faktormodell, das Nichtlinearitäten zulässt, auf S&P-500-Indexoptionen angewandt. Es eignet sich unter anderem für ein besseres Rendite-Risiko-Verständnis.
Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Machine Learning bessere Handelsstrategien mit Optionen ermöglicht. Wann Machine Learning dafür in der Breite genutzt wird, hängt davon ab, wann eine kritische Masse an Finanzfachleuten die Technologie versteht. Die Nutzung ist also kaum mehr eine Frage der Technologie, sondern der Psychologie.
Für die anderen drei Essays haben Mathis Mörke und seine Co-Autoren keine künstliche Intelligenz verwendet. Dennoch erwähnen wir auch diese Essays, weil sie relevant sind:
- Im Essay „Liquidity Provision to Leveraged ETFs and Equity Options Rebalancing Flows“ geht es darum, kurzfristige Kursbewegungen in Basiswerten von Optionen zu erklären, die durch das Handeln von Marketmaker verursacht werden.
- Der Essay „Credit Variance Risk Premiums“ untersucht die Preisgestaltung des Varianzrisikos auf Kreditmärkten mit Hilfe eines einzigartigen Credit-Swap-Optionen-Datensatzes. Die Renditen von Credit Variance Swaps sind negativ, unabhängig von der Bonitätsklasse – und zwar stärker negativ als bei beispielsweise Aktien, Anleihen und Währungen.
- Und im Essay „Commodity Tail Risks“ untersuchen Mathis Mörke und seine Co-Autoren erwartete Tail-Risiken auf Rohstoffmärkten und ihre Treiber. Eine Erkenntnis: Im Gegensatz zu beispielsweise Aktienmärkten sind unerwartet starke Preisverfälle, aber auch Kurssprünge von Bedeutung.
Fallbeispiel 2: Ein besseres Asset Liability Management mit neuronalen Netzen
Der zweite Plexus-Förderpreis-Gewinner, Konrad Müller, hat die Masterarbeit „Deep Asset Liability Management“ (55 Seiten, in englischer Sprache) verfasst. Darin entwickelt er ein innovatives Modellierungsframework für das Asset Liability Management (ALM).
Banken nutzen ALM, um Zinsrisiken im Kreditgeschäft abzusichern. Dies impliziert zwei gegensätzliche Ziele: Einerseits müssen die Banken ihre Zinsänderungsrisiken absichern, andererseits möchten sie von der Fristentransformation profitieren. Gleichzeitig müssen die Banken zahlreiche gesetzliche Regularien einhalten. Die damit einhergehende Komplexität ist eine große Herausforderung.
Konrad Müller formuliert ALM als ein mehrdimensionales stochastisches Kontrollproblem, bei dem monatliche Investitions- und Finanzierungsentscheidungen die Bilanzentwicklung von Banken beeinflussen. Den Entscheidungsprozess hat er mit einem neuronalen Netzwerk parametrisiert und dieses auf Portfoliodaten einer Bank und zukünftiger Zinskurvenszenarien trainiert. In der Arbeit werden die Entscheidungen des neuronalen ALM-Managers dann auf prototypische Szenarien tiefer analysiert und anwendbare Rückschlüsse getroffen.
Seine Experimente belegen, dass „Deep ALM“, also ein KI-gestütztes Asset Liability Management, herkömmliche Zinsstrategien beziehungsweise Benchmark-Methoden übertrifft. Dabei geht es neben der Auflösung des Interessenkonflikts „kurzfristige Schulden vs. langfristige Assets“ insbesondere darum, mit welcher Verteilung über Durationen ein gegebener Risikoappetit optimal implementiert werden kann. Das Modell von Konrad Müller wird bereits in der Praxis als Vergleichsmodell zu dem stark regulierten ALM-Entscheidungsprozess herbeigezogen.
Fallbeispiel 3: LSTM-Netzwerke erhöhen die Qualität von Finanzmarktprognosen
Der dritte Förderpreisgewinner, Valentin Hasner, hat eine Bachelor-Arbeit mit dem Titel „Predictive Capabilities of LSTM Networks: A Case Study of the Stoxx Europe 600 Index“ (72 Seiten, in englischer Sprache) verfasst. Auch er hat sich darin Deep Learning gewidmet. Die Technologie ist vielfältig nutzbar – für Trendprognosen bis hin zu Anlagestrategieoptimierungen. In seiner Forschungsarbeit hat er die Leistungen und Potenziale kleinerer Deep-Learning-Netzwerke untersucht – insbesondere, inwieweit Long-Short-Term-Memory-Modelle (LSTM-Modelle) für Finanzmarktprognosen in komplexen Umfeldern mit niedrigen Signal-Rausch-Verhältnissen zur Erkennung falscher Marktsignale geeignet sind.
Aufbauend auf früheren Forschungen der Finanzmarktexperten und Artellium-Gründer Thomas Fischer und Christopher Krauss hat er insbesondere untersucht, inwieweit deren Beobachtungen auch für neuere Daten im europäischen Markt gelten. Zudem analysierte Valentin Hasner Auswirkungen einer vektorisierten Zeitform als zusätzliche Informationsquelle auf dem Finanzmarkt sowie den Einfluss diverser Regularisierungen, also von Methoden, um Überanpassungen zu vermeiden. Seine Methodik basiert auf einem quantitativen Ansatz – primär mit Indexaktien-Daten des Stoxx Europe 600 aus den Jahren 2002 bis 2022. Die Daten mussten beschafft, aufbereitet, also auch von Anomalien bereinigt, und an Hasners LSTM-Modell angepasst werden. Dann konnte er das Modell implementieren und trainieren.
Seine Forschung ermöglicht ein besseres Verständnis dafür, wie LSTM-Modelle Finanzprognosen verbessern können. Von 2002 bis 2022 haben die Überrenditen übrigens abgenommen, weil große Marktteilnehmer effizienter geworden sind. Selbst Privatanleger nutzen heute mehr Technologien als noch vor wenigen Jahren – und finden entsprechend mehr Marktineffizienzen, die sie in Gewinne umwandeln können.
Mehr Transparenz wird zu mehr Anwendungen führen
Sich als Asset Manager Informationsvorteile gegenüber anderen Asset Managern zu erarbeiten, ist auf herkömmliche Weisen kaum mehr möglich. Es braucht neue, auf KI basierende Technologien und geeignete Modelle dafür. Allerdings werden vorerst weiterhin viele Protagonisten der Vermögensverwaltungsbranche KI-gestützte Entscheidungswege nicht vollständig akzeptieren, obwohl diverse Modelle im Vergleich zu von Menschen verwalteten Portfolios ebenbürtig oder gar besser performen.
Ein Grund dafür: Die meisten Finanzexperten möchten eine Ratio hinter den Renditen sehen. Die Gewinner des Plexus-Förderpreises für künstliche Intelligenz in der Finanzwirtschaft leisten einen Beitrag dazu. Das Zögern vieler Entscheider im Asset Management bezüglich künstlicher Intelligenz unterstreicht, wie wichtig es ist, weiterhin Vertrauen aufzubauen – durch Transparenz. Und Transparenz bedeutet: klar kommunizieren, wie KI-Tools eingesetzt werden und funktionieren sowie menschliche Experten in den Überwachungsprozess einbeziehen.
KI hat das Potenzial, das Asset Management, die Wirtschaft insgesamt, sogar das gesamte menschliche Leben zu revolutionieren. Aber sie birgt auch Risiken – insbesondere ethische Risiken wie die Beeinflussung der menschlichen Kognition durch Maschinen. Die gesamte Gesellschaft ist gefordert, ein Gleichgewicht zwischen der Potenzialnutzung und ihren Herausforderungen zu finden. Wie dies im Asset Management funktionieren kann, haben auch die Gewinner des Plexus-Förderpreises gezeigt.
Über die Gastautoren:
Günter Jäger ist Gründer und Geschäftsführer von PLEXUS Investments sowie Veranstalter der Konferenz „Artificial Intelligence in the Financial Sector“ und Initiator der PLEXUS-KI-Denkfabrik.
Dr. Mathis Mörke ist Postdoktorand an der Schweizer Universität St. Gallen und Autor der Dissertation „Essays in Derivative Markets“.
Konrad Müller ist Associate bei der Investmentbank JP Morgan in London, Doktorand am Londoner Imperial College und Autor der Masterarbeit „Deep Asset Liability Management“.
Valentin Hasner ist Absolvent der Universität St. Gallen in der Schweiz und der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Autor der Bachelorarbeit „Predictive Capabilities of LSTM Networks: A Case Study of the STOXX Europe 600 Index“.