Nachhaltigkeitsexperte Jan Rabe So beeinflussen ESG-Ratings den Kapitalmarkt

Jan Rabe leitet das Nachhaltigkeitsbüro von Metzler Asset Management.

Jan Rabe leitet das Nachhaltigkeitsbüro von Metzler Asset Management. Foto: Metzler AM

Angesichts der zunehmend nachhaltigen Ausrichtung von Kapitalanlagen schichten zahlreiche Anleger ihre investierten Vermögenswerte um. Als Gradmesser für nachhaltige Unternehmensführung haben sich nach intensiver Konsolidierungsphase wenige ESG-Ratingagenturen als Meinungsmacher etabliert. Entgegen aller Kritik aus der Fondsmanagementindustrie an entsprechenden Bewertungskonzepten, wächst der Einfluss dieser Beurteilungen stetig auf Anlageentscheidungen im Portfoliomanagement.1

Die Einzeltitelauswahl erfolgt somit stärker nach ESG-Kriterien. Dadurch sind für einige Titel bereits beachtliche Bewertungsprämien entstanden, die sich von der fundamentalen Ertragskraft der Unternehmen entkoppelt haben – was auf eine Übertreibung hindeuten könnte. Wie sich dies auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen bei der Finanzierung über Kapitalmärkte auswirkt, erfahren Sie nachfolgend.

Wann immer Kapital in exponentiellem Ausmaß und innerhalb kurzer Zeit in eine Ecke des Marktes strömt, besteht die Gefahr, dass sich Marktpreise und fundamentale Unternehmensbewertungskennzahlen entkoppeln. Dieses Phänomen lässt sich aktuell am Trend „nachhaltige Kapitalanlage“ in der Finanzindustrie zeigen.

Während Aktienfonds über die vergangenen drei Jahre massive Mittelabflüsse verzeichneten, flossen gewaltige Summen in nachhaltig deklarierte Finanzprodukte (Abbildung 1). Diese haben meist die Schlagwörter „ESG“2 oder „Nachhaltigkeit“ im Titel. Andere knüpfen mit ihren Investmentansätzen verstärkt an diesen Themen an.

Abbildung 1: Mittelzuflüsse in ESG-Fonds steigen rasant an
Weltweite Nettokapitalflüsse in Aktienfonds in Milliarden US-Dollar

Quellen: Factset, Refinitiv, Bloomberg Finance LP, Metzler

Die Ergebnisse aktueller und repräsentativer Umfragen unter institutionellen Anlegern lassen vermuten, dass eine Trendumkehr dieser Mittelzuflüsse in naher Zukunft nicht absehbar ist.3 Mehr als drei Viertel aller Befragten gaben an, bis 2022 keine Produkte mehr zu kaufen, die ESG-Vorgaben nicht erfüllen.

Hinzu kommt, dass aktuelle Bestrebungen in der Finanzmarktregulierung, beispielsweise im Rahmen der geplanten EU-Taxonomie ab 2021, diesen Umschwung fördern. Einerseits ist ein einheitliches Verständnis rund um „nachhaltige unternehmerische Aktivitäten“4 zu begrüßen, um dem Missbrauch des Begriffs in der Finanzindustrie vorzubeugen. Andererseits führt diese Standardisierung zu einem stark konzentrierten Kapitalfluss in Wertpapiere entsprechend konformer Emittenten.

Liquidität fließt vor allem in Börsenschwergewichte

Was bedeutet das für die Kapitalanlage und die Finanzierung von Unternehmen über den Kapitalmarkt? Unsere Analysen deuten darauf hin, dass insbesondere Titel mit hoher Marktkapitalisierung und von führenden Ratingagenturen als nachhaltig eingestufte Emittenten von Wertpapieren davon profitieren werden.

Denn durch deren Größe eignen sich solche Titel besonders, um aggregierte ESG-Portfoliobewertungen gegenüber Vergleichsindizes zu stärken – auch wenn Portfolios in der Breite kein ESG-konformes Bild ausweisen können.


1 Rabe, J. (2020), Metzler Asset Management GmbH: „Nachhaltige Kapitalanlage wird zum Anlagestandard“

2 ESG steht für Environment, Social and Governance (zu Deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung)

3 PWC (Oktober 2020): The growth opportunity of the century

4 Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2020