Analyse Drei Russland-Ukraine-Szenarien und ihre Auswirkungen auf die Anleihemärkte

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Szenario 2: Ein langwieriger Krieg (45 Prozent Wahrscheinlichkeit)

Der Krieg könnten noch mehrere Monate andauern, wenn die beteiligten Parteien kurzfristig kein Friedensabkommen schließen. Dies würde viel größere Schäden an der Infrastruktur und humanitäre Verluste für die Ukraine bedeuten. Russland würde wahrscheinlich seine territoriale Kontrolle über die Ukraine ausweiten und das Land zwingen, einen größeren Teil seiner territorialen Integrität aufzugeben. Bei einigen Varianten dieses Szenarios könnte es zu einer Zweiteilung der Ukraine kommen, mit russischer Kontrolle über die Ostukraine und einer legitimen demokratischen Regierung in der Westukraine.

  • Die Ukraine restrukturiert ihre Auslandsschulden, wobei die Erholung höchst unsicher ist. Die Erholung von ukrainischen Staatsanleihen hängt einerseits davon ab, wie viel territoriale Integrität die Ukraine bewahren kann, andererseits von der Länge des Krieges. Letztere bestimmt das Ausmaß der Infrastrukturschäden sowie die Höhe des wahrscheinlich großen Verlusts an Humankapital, vorwiegend durch Migration.

    In der optimistischsten Variante dieses Szenarios bewahrt die Ukraine den Großteil ihrer territorialen Integrität und die umfangreiche finanzielle Unterstützung aus dem Westen würde eine schnelle Erholung ermöglichen. Eine marktfreundliche Restrukturierung könnte zu einer Erholung zwischen 50 und 70 Prozent führen.

    In der pessimistischsten Variante dieses Szenarios verliert die Ukraine einen großen Teil ihres Staatsgebiets. Die geringste Erholung nach einer Restrukturierung bei Staatsanleihen in jüngster Vergangenheit war die Restrukturierung im Irak nach der Invasion im Jahr 2003. Gläubiger des Pariser Clubs akzeptieren einen Haircut bei der Kapitalsumme von 80 Prozent. Für die Ukraine erwarten wir dies als untere Grenze.
  • Zahlungsausfall bei russischen Staatsanleihen wahrscheinlich nach dem 25. Mai. Wenn der Konflikt monatelang anhält, könnten die USA unserer Ansicht nach weniger daran interessiert sein, die durch die General License 9A verhängte Frist zu verlängern. Das Ausbleiben einer Verlängerung würde verhindern, dass Anleihegläubiger Zahlungen erhalten, selbst wenn Russland weiter bereit und in der Lage ist, diese zu leisten. Belarus ist finanziell von Russland abhängig. Deshalb dürfte das Land unserer Meinung nach ebenfalls einen Zahlungsausfall nicht vermeiden können, wenn Russland gezwungen ist, seinen Schuldendienst einzustellen.

    Keine Restrukturierung in Sicht: Die US-Sanktionen gegen das russische Finanzministerium, die russische Zentralbank und den russischen Staatsfonds würden weiterhin bestehen bleiben, was den russischen Staat daran hindern würde, eine Schuldenrestrukturierung in absehbarer Zukunft durchzuführen. Die Staatsanleihen Venezuelas, die in einer ähnlichen Situation waren, wurden nach dem Staatsbankrott im Jahr 2017 zu einem Kurs von 20 bis 30 Cent pro US-Dollar gehandelt.

    Tiefe Rezession, aber kein Zusammenbruch der Wirtschaft wie in Venezuela: Die russische Wirtschaft wird dieses Jahr unweigerlich in eine tiefe Rezession stürzen, aber ein Zusammenbruch der Wirtschaft, wie wir ihn in Venezuela und im Libanon gesehen haben, ist bei einer bislang gut gesteuerten Wirtschaft mit geringer Verschuldung und einem Doppelüberschuss (Haushalts- und Außenhandelsüberschuss) sehr unwahrscheinlich. Wir denken daher, dass dieses lange Ausfallszenario bereits weitgehend eingepreist wurde.

    Die meisten russischen Emittenten von Unternehmensanleihen werden weiter Zahlungsausfälle vermeiden: Die Wirtschaftssanktionen werden die Umsätze von russischen Emittenten von Unternehmensanleihen beeinträchtigen. Da es sich aber bei den meisten Emittenten um Exporteure handelt, die eine geringe Verschuldung aufweisen und über Auslandsvermögen verfügen, auf das Gläubiger zugreifen könnten, denken wir, dass die meisten von ihnen einen Zahlungsausfall vermeiden dürften. Unternehmen mit einem erheblichen Anteil von Inlandsumsätzen und solche, deren Exporte aufgrund der Sanktionen beträchtlich eingeschränkt sind, müssen eine Restrukturierung vornehmen, aber wir erwarten, dass marktfreundliche Restrukturierungen überwiegen werden.

Szenario 3: Eine von Russland kontrollierte Ukraine (20 Prozent Wahrscheinlichkeit)

Der starke Widerstand des ukrainischen Militärs und der ukrainischen Bevölkerung sowie die konstanten Lieferungen von militärischer Ausrüstung durch den Westen machen eine vollständige Eroberung der Ukraine unwahrscheinlich. Aber es ist trotzdem ein mögliches Szenario. In diesem Worst-Case-Szenario würde die Ukraine von einer pro-russischen, illegitimen Regierung regiert. Es würden dann Sanktionen gegen die Ukraine verhängt werden und sie würde die finanzielle Unterstützung des Westens verlieren.

Zu Zahlungsausfällen bei allen drei Staatsanleihen-Kategorien und einer Restrukturierung würde es nur nach einem Regimewechsel kommen. Der Ausblick für russische Unternehmen bleibt unsicher, je länger die strengen Wirtschaftssanktionen von Seiten der westlichen Staatengemeinschaft anhalten. Wir würden mehr Restrukturierungen bei Unternehmen erwarten als bei den vorherigen Szenarios.

Trauriger Ausblick: Langwieriger Krieg ist das wahrscheinlichste Szenario

Die Situation in der Ukraine ist extrem ungewiss, und die oben dargestellten Szenarios werden sich nach Erhalt weiterer Information und der Fortsetzung der internationalen diplomatischen Anstrengungen ändern. Die kritischen Faktoren für Anleihe-Anleger sind unserer Ansicht nach bei den politischen Entscheidungen bezüglich der Sanktionen zu finden. Wir werden dies also weiter genau beobachten. Wir sind zutiefst erschüttert, dass ein langwieriger Krieg (Szenario 2) das wahrscheinlichste Szenario zu sein scheint, hoffen aber weiter, dass so bald wie möglich eine friedliche Beilegung des Konflikts erreicht werden kann.

 

Über den Autor:
Carlos de Sousa ist Schwellenländer-Experte und Portfoliomanager bei Vontobel Asset Management.

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