Analyse Drei Russland-Ukraine-Szenarien und ihre Auswirkungen auf die Anleihemärkte

Carlos de Sousa, Portfoliomanager bei Vontobel Asset Management

Carlos de Sousa, Portfoliomanager bei Vontobel Asset Management: Der Schwellenländerexperte beschreibt drei Szenarien für Fortgang des Russland-Ukraine-Krieges und die Auswirkungen auf Anleihen der Länder.

Kurz und bündig

  • Die derzeitigen US-Sanktionen würden einen Zahlungsausfall Russlands nach dem 25. Mai erzwingen, obwohl Russland durchaus bereit und in der Lage ist, seine Staatsschulden zu bedienen. Es sind jedoch Fristverlängerungen von US-Seite aus möglich.
  • Die meisten russischen Emittenten von Unternehmensanleihen sind nicht sanktionierte Exporteure mit geringer Verschuldung und beträchtlichem Auslandsvermögen. Die meisten von ihnen dürften ihre Auslandsschulden weiter bedienen.
  • Die Ukraine zeigt sehr große Bereitschaft, einen Zahlungsausfalls zu vermeiden und kann ihre Auslandsschulden dank vom Westen bereitgestellter, umfangreicher finanzieller Unterstützung bedienen. Eine Restrukturierung könnte jedoch nur vermieden werden, wenn der Krieg relativ kurz wäre.

Während die militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine weiter anhält, verhandeln Unterhändler beider Länder darüber, wie dieser Konflikt beendet werden kann. In diesem Beitrag beschäftigen wir uns mit drei möglichen Szenarien für ein Ende des Krieges, die unserer Meinung nach am wahrscheinlichsten sind.

Wir sind uns jedoch bewusst, dass jede dieser stilisierten Szenarien eine Vielzahl von Varianten enthält. Dieser Rahmen ermöglicht es uns die möglichen Erholungspotenziale für Anleihen aus Russland, der Ukraine und Belarus genauestens zu beurteilen:

Szenario 1: Ein Friedensabkommen in nächster Zeit (35 Prozent Wahrscheinlichkeit)

Russland und die Ukraine führen derzeit Friedensverhandlungen. Es sieht so aus, als ob die beteiligten Parteien derzeit noch nicht für einen Kompromiss bereit sind, aber ein Abkommen in den nächsten zwei Monaten scheint plausibel. Die Details müssten noch ausgearbeitet werden, aber ausgehend von öffentlich verfügbaren Informationen könnte von einem Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine ausgegangen werden, wenn die Ukraine im Gegenzug auf ihre Ambitionen einer Nato-Mitgliedschaft verzichtet, die Krim als Teil Russlands anerkennt und die Größe ihrer Streitkräfte künftig begrenzt.

Eine Art Minsk-III-Abkommen wäre hier nötig, um die Kämpfe mit den prorussischen Separatisten in Donezk und Luhansk – ein seit 2014 bestehender Konflikt – zu beenden. Die Ukraine könnte die unabhängigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk (DNR und LNR) unter dem Schutz von russischen Friedenstruppen anerkennen. Alternativ könnten DNR und LNR ein gewisses Maß an Unabhängigkeit innerhalb der Souveränität der Ukraine gewährt werden. Bei beiden Optionen würde die Ukraine den Großteil ihrer territorialen Integrität bewahren. In diesem Szenario erscheinen die folgenden Varianten als wahrscheinlich:

  • Die Ukraine vermeidet einen Zahlungsausfall oder führt eine marktfreundliche Restrukturierung durch. Dies wäre nur mit erheblicher finanzieller Unterstützung möglich, die derzeit von ihren Partnern aus dem Westen bereitgestellt wird und die es der Ukraine bislang ermöglicht, ihre Auslandsschulden weiter zu bedienen. Diese umfangreiche finanzielle Unterstützung würde auch einen schnellen Wiederaufbau des Landes ermöglichen.

    Beispiele hierfür gibt es genügend: So wuchs nach der Invasion im Jahr 2003 die irakische Wirtschaft um insgesamt 178 Prozent in den Jahren 2003 und 2004, während die Wirtschaft in Kuwait in den zwei Jahren nach der Invasion im Jahr 1991 um 147 Prozent wuchs. Der Erholungswert von ukrainischen Staatsanleihen könnte dagegen zwischen 70 und 100 Prozent betragen, abhängig davon, ob es eine Restrukturierung gibt oder nicht.
  • Auch Russland könnte einen Zahlungsausfall vermeiden, was jedoch von einer Lockerung der Sanktionen durch die westliche Staatengemeinschaft abhängt. Die Emittenten russischer Staats- und Unternehmensanleihen haben bisher ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Vermeidung eines Zahlungsausfalls unter Beweis gestellt, aber die derzeitigen US-Sanktionen würden verhindern, dass Anleihegläubiger nach dem 25. Mai 2022 Rückzahlungen für die von ihnen gehaltenen Staatsanleihen erhalten, siehe OFAC General License 9A.

    Wenn das Friedensabkommen vor diesem Termin abgeschlossen wird und für die USA akzeptabel ist, dann besteht die Möglichkeit, dass diese und andere Wirtschaftssanktionen gelockert werden, wodurch Russland einen Zahlungsausfall bei russischen Staatsanleihen vermeiden könnte. Dies ist jedoch keineswegs gewiss und die Entscheidung liegt bei den USA. Wenn es Russland gelingt, nach einem zufriedenstellenden Friedensabkommen eine Lockerung der Sanktionen zu erreichen und einen Zahlungsausfall zu vermeiden, dürfte Belarus ebenfalls um einen Zahlungsausfall herumkommen.
  • Eine große Mehrheit der russischen Emittenten von Unternehmensanleihen vermeiden einen Zahlungsausfall. Nur einige wenige Emittenten von Unternehmensanleihen mit schwerwiegenden Umsatzeinbußen könnten marktfreundliche Restrukturierungen mit hohen Erholungswerten vornehmen.