Lassen sich neue Narrative nutzen, um Investitionsentscheidungen auf eine solidere Grundlage zu stellen und besser mit dem Phänomen des Schwarzen Schwans umzugehen?
Shiller: Ja, ich bin der Meinung, dass es die Aufgabe der Politik ist, Narrative vorzugeben. Denken wir nur an die „Own Your Own Home“-Bewegung in den frühen 1920er-Jahren. Diese wurde nicht nur von der Administration des US-Präsidenten Calvin Coolidge propagiert, sondern auch von Bürgerinitiativen, Frauengruppen und Wirtschaftsverbänden. Um das allgegenwärtige Thema am Laufen zu halten, musste ein Widerstand überwunden werden, nämlich der Widerstand gegen das Leihen von Geld....
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Lassen sich neue Narrative nutzen, um Investitionsentscheidungen auf eine solidere Grundlage zu stellen und besser mit dem Phänomen des Schwarzen Schwans umzugehen?
Shiller: Ja, ich bin der Meinung, dass es die Aufgabe der Politik ist, Narrative vorzugeben. Denken wir nur an die „Own Your Own Home“-Bewegung in den frühen 1920er-Jahren. Diese wurde nicht nur von der Administration des US-Präsidenten Calvin Coolidge propagiert, sondern auch von Bürgerinitiativen, Frauengruppen und Wirtschaftsverbänden. Um das allgegenwärtige Thema am Laufen zu halten, musste ein Widerstand überwunden werden, nämlich der Widerstand gegen das Leihen von Geld. Es galt als unmoralisch und auch unklug, sich Geld zu leihen. Man hatte zu sparen, bis man das Geld zusammen hatte, um ein Haus zu kaufen. Die „Own Your Own Home“-Bewegung erklärte diesen Grundsatz zu einem Fehler. Es wäre nichts Falsches daran, sich Geld zu leihen, um ein Haus zu kaufen. Denn wenn man das Haus erst einmal hat, sei man grundsätzlich aus dem Gröbsten heraus.
„Wir müssen das allgemein kursierende Bild korrigieren. Es gibt nichts, wovor man im Augenblick besonders viel Angst haben muss.“
Diese Sichtweise setzte sich durch, und der Hypothekenmarkt wuchs aufgrund dieses veränderten Narrativs zu gewaltigen Dimensionen heran. Anders heute: Jetzt ist es die Angst vor institutionellen Investoren, die beim Kauf von Wohneigentum die Nase vorn haben.
Was lernen wir daraus?
Shiller: Wir müssen das allgemein kursierende Bild korrigieren. Es gibt nichts, wovor man im Augenblick besonders viel Angst haben muss. Was die „Schwarzer Schwan“-Ereignisse angeht, so denkt man im Moment natürlich vor allem an die Pandemie. Es war aber zuvor nicht undenkbar, dass so ein Großereignis eintreten könnte. Es gab Warnungen, dass sich früher oder später eine Pandemie Bahn brechen könnte. Den Menschen erschien das nie real – bis wir alle dann luftdicht die Masken aufsetzen mussten.
Und im Frühjahr 2020 war es soweit: Der Aktienmarkt und der Immobilienmarkt steckten dramatisch zurück.
Shiller: Ja, das Narrativ von der Wiederkehr der Great Depression wurde plötzlich wieder lebendig. Zwar beschwichtigte Coolidge damals, dass mit der Wirtschaft alles soweit in Ordnung sei, nur an kleineren Stellschrauben würde es haken. Er hatte recht, aber er konnte der Öffentlichkeit die Angst vor der Great Depression nicht nehmen. Mit Blick sowohl auf den Immobilienmarkt als auch auf den Aktienmarkt wähnten die Menschen große Instabilität. Heute ist das anders: Die Immobilienpreise sind relativ fest und auch die Aktienmärkte halten sich beachtlich gut. Manche Marktsegmente sind sogar von kräftigen Zuwächsen gekennzeichnet. Calvin Coolidge ist lange passé, aber unsere Politiker liegen mit dem Narrativ, das sie derzeit über die Märkte verbreiten, nicht ganz richtig. In gewisser Weise ist es ihre Aufgabe, Zuversicht auszudrücken, ohne dabei natürlich zu selbstsicher zu sein.
Könnten Sie kurz die Grundlagen beschreiben, auf denen die langfristigen realen Renditeprognosen basieren?
Shiller: Die Aktienkurse bewegen sie sich sehr stark im Verhältnis zu den Unternehmensgewinnen. Die Frage, die sich sofort stellt, ist: Warum bewegt sich der Markt jetzt derart stark? Ich habe meine Beobachtungen erstmals 1979 veröffentlicht, das ist über 45 Jahre her. Ich habe das Phänomen übermäßige Volatilität auf dem Aktienmarkt genannt. Übermäßige Volatilität suggeriert, dass Anleger sich letztlich gegen die Märkte stellen sollten. Wenn sich an den Unternehmensgewinnen auf kurze Sicht nicht viel geändert hat, besteht längerfristig auf Sicht von zehn Jahren keine Gefahr. Man muss sich dessen bewusst sein, dass es sich bei der kurzfristig oft starken Volatilität auf lange Sicht letztlich um lediglich schwache Bewegungen des Aktienmarktes handelt.
Welche Rolle kommt hier dem CAPE-Ratio zu?
Shiller: Das CAPE-Ratio ist ein guter Indikator, um sicher durch das Auf und Ab der Märkte zu navigieren, das weitgehend von Psychologie getrieben ist. Seit einigen Jahren schwappte der Markt von Narrativen über, darunter Kryptowährungen. Warum unterliegen Kryptowährungen den gesehenen immensen Schwankungen? Warum steigen sie teils so dramatisch im Wert? Das hängt mit dem jeweiligen Narrativ zusammen. „Krypto“ klingt geheimnisvoll, es klingt nach Spannung und Aufregung. Die Menschen lieben solche Geschichten. Die Kryptowährung Bitcoin wurde von einem Herrn Satoshi Nakamoto geschaffen, der sich nie in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Niemand kennt ihn, niemand hat ihn je gesehen. Sehr rätselhaft. Es gab Hochstapler, die sich als Satoshi Nakamoto ausgegeben haben. Die Kraft dieser Erzählung sehe ich in den Augen meiner Studenten. Wenn ich Bitcoin erwähne, werden sie ganz hibbelig.
Alles in allem ist dieses Verhalten nichts Schlechtes. Es ist gut, sich für etwas zu begeistern, das man tut, aber man sollte dabei nicht zum Extremisten werden. Doch genau das passiert mit diesen neuen Narrativen. Heutzutage sind es NFTs und ähnliche digitale Konstrukte, die mit der Verheißung auf den Markt gebracht werden, dass ihr Preis steigt und die Käufer damit reich werden...
Wie sieht es aus: Lässt sich das Nachhaltigkeitsnarrativ einspannen, um auf dem Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft schneller voranzukommen?
Shiller: Ja, auf jeden Fall. Hier handelt es sich um ein explosives Narrativ. ESG-Aktien stiegen auf sehr hohe Preisniveaus. Aber warum schlug das Ganze so große Wellen? Man muss sich die betreffenden Erzählungen ansehen: Alarm! Wir gehen sehenden Auges in eine Umweltkatastrophe. Alarm! Wir werden es später bereuen, wenn wir uns nicht rechtzeitig kümmern.
„Es scheint unter der Würde vieler Ökonomen zu sein, nicht auf fundamentale Kennzahlen zu schauen, sondern über Greta Thunberg zu sprechen.“
Schrecklich.
Shiller: Genau. Aber es gab auch angenehmere Arten von ESG-Narrativen. Ich denke da an Greta Thunberg, die vor ein paar Jahren gerade mal 16 Jahre alt war. Als Teenager bekam sie über Nacht internationale Aufmerksamkeit, indem sie im Namen ihrer Generation forderte, von den älteren Generationen nicht im Stich gelassen zu werden. Sie malte eine Tragödie an die Wand, die unser aller Leben zerstört. So ungefähr: Ihr dürft nicht scheitern. Um ihren Ansatz zu verdeutlichen, ist sie in einem kleinen Segelboot – gelenkt von einer erfahrenen Crew – über den Atlantik in die USA gesegelt. Eigentlich keine große Sache, aber die Medien griffen die Geschichte vom kleinen mutigen Mädchen in den haushohen Wellen des Atlantiks gerne auf. Wir erinnern uns vermutlich gar nicht mehr: Anfangs besuchte sie das Weltwirtschaftsforum ohne Einladung. Doch dann wurde sie eingeladen, weil sie so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich erinnere mich daran, sie dort gesehen zu haben.
Kurz gesagt: Aus einem Trend, der einen Nerv trifft, kann etwas Größeres werden?
Shiller: Solche Ereignisse verstärken sich selbst. Der Fall ist klar: Man sollte sich Ansteckung und Übertragung näher ansehen – ein Narrativ kann wie ein Virus um die Welt laufen. Es scheint unter der Würde vieler Ökonomen zu sein, nicht auf fundamentale Kennzahlen zu schauen, sondern über Greta Thunberg zu sprechen. Aber so sollte es nicht sein – so darf es nicht sein – denn die Märkte, ob in den USA, Europa oder weltweit, werden maßgeblich von Menschen getrieben, die unter dem Einfluss dieser Großerzählungen stehen.