Herr Shiller, wie schätzen Sie die Lage der US-Wirtschaft ein? Kommt die Rezession?
Robert J. Shiller: Das Eintreten der Rezession ist möglich, ja, und das beunruhigt mich. Alles hängt indes davon ab, wie sich die Politik entwickelt. Die derzeitige Situation ist seltsam. Wir hatten gerade den längsten Aufschwung in der US-Geschichte seit 1854; er lief von 2009 bis 2020. Dann kam es zur kürzesten...
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Herr Shiller, wie schätzen Sie die Lage der US-Wirtschaft ein? Kommt die Rezession?
Robert J. Shiller: Das Eintreten der Rezession ist möglich, ja, und das beunruhigt mich. Alles hängt indes davon ab, wie sich die Politik entwickelt. Die derzeitige Situation ist seltsam. Wir hatten gerade den längsten Aufschwung in der US-Geschichte seit 1854; er lief von 2009 bis 2020. Dann kam es zur kürzesten Rezession aller Zeiten, von Februar bis April 2020. Wir bewegen uns also auf unerforschtem Gebiet und bräuchten letztlich eine brandneue Makroökonomie, um all diese Entwicklungen noch besser zu verstehen.
Inwiefern?
Shiller: Die keynesianische Wirtschaftspolitik, die in den 1930er-Jahren aufkam, hat sich überlebt. Sie hatte ihr eigenen Messgrößen wie Arbeitslosenquote und BIP. In den 1970er-Jahren entwickelte sich dann das Credo der Lohn-Preis-Spirale. Demzufolge gibt es eine Macht, die Inflation fast unausweichlich werden lässt, weil zwei Lager im Clinch liegen: Die Gewerkschaften wollen höhere Löhne durchsetzen, woraufhin die Unternehmen ihre Preise erhöhen und diese auf die Verbraucher abwälzen. In diesem Modell trägt die Erwartung der Arbeitnehmer, dass Inflation unausweichlich ist, dazu bei, dass es tatsächlich so kommt. Doch das muss nicht sein. Derzeit ist es vor allem diese Furcht vor einem weiteren Inflationsanstieg, die ein stärkeres Wirtschaftswachstum hemmt.
Sie sind bekannt für das Shiller-KGV, eine modifizierte Berechnung des Kurs-Gewinn-Verhältnisses am Aktienmarkt. Es setzt die gegenwärtigen Aktienkurse ins Verhältnis zu den durchschnittlichen Unternehmensgewinnen der vergangenen zehn Jahre. Wo stehen wir da im Moment?
Shiller: Ich nenne diese Bewertungskennzahl das CAPE-Ratio, Cyclically Adjusted Price-to-Earnings Ratio. Die USA stehen da jetzt gerade bei 27,9. Das ist ungefähr doppelt so hoch wie der langfristige Durchschnitt, der bis 1881 zurückreicht – aber beileibe kein Rekordwert. Die höchsten je gemessenen CAPE-Ratios haben wir zu Beginn der 2000er-Jahre beobachtet, als das Niveau in den USA bei über 40 lag – und dann schnell zu einem Crash im Aktienmarkt führte.
Und in Europa?
Shiller: Da liegt das CAPE-Ratio zurzeit bei 19,2, deutlich niedriger. Dennoch sind sowohl die USA als auch Europa gute Investitionsziele, denn selbst jetzt – mit einer US-CAPE-Ratio von 27,9 – können wir für den Aktienmarkt mit einer positiven Rendite rechnen. Zudem ist die Ratio schon deutlich gesunken. Sie lag in den USA bei über 30 und war in den letzten Jahren nie so hoch wie im Jahr 2000. Ich achte stets auf CAPE und versuche, CAPE bei Investitionen zu berücksichtigen. Ich habe mit dem britischen Finanzinstitut Barclays an entsprechenden Produkten gearbeitet, und indirekt auch mit der Investment-Gesellschaft Natixis. Wichtig ist aber immer: Man muss das Gesamtbild von Narrativen betrachten, um Wirtschaft zu verstehen.
Bitte genauer.
Shiller: Unser Gespräch erfolgt über die Internetverbindung bluejeans.com. Blue Jeans sind als Teil des Narrativs der Great Depression in Mode gekommen. Während der Great Depression herrschte das Narrativ vor, dass niemand die Schuld an dieser Depression trägt. Daher wurden die vielen Millionen Arbeitslosen, die vor dieser Phase in der Regel mit Geringschätzung angesehen wurden – und die nun sonnengebräunt und entspannt in ihren Niethosen die Straßen bevölkerten – zu etwas ganz Normalem. Bald wurde es auch für Frauen en vogue, Jeans zu tragen. Das ist uns erhalten geblieben. In meinem Buch „Narrative Wirtschaft. Wie Geschichten die Wirtschaft beeinflussen – ein revolutionärer Erklärungsansatz“ vergleiche ich Narrative mit ansteckenden Krankheiten. Ich bin nicht der Erste, der diesen Vergleich zieht, aber ich führe das weiter aus. Das Grippevirus kommt und geht. Immer mal wieder tritt eine Mutation auf, die eine neue Welle auslöst. Und genau das passiert mit Narrativen, viralen Narrativen.
Zur Zeit der Great Depression – und ich habe das in alten Zeitungen, darunter in Zeitungsartikeln für Frauen gelesen – dachten viele Leute, dass es geschmacklos wäre, ein neues Auto zu kaufen; es wäre arrogant gegenüber meinen Nachbarn, den Menschen um mich herum. Teure Partys und Urlaube waren gesellschaftlich tabu. Dieses Narrativ hat zur Verschärfung der Great Depression beigetragen. Schlimmer noch: Es war ein globales Narrativ, weil es so ansteckend war. Wie bei einer Krankheit, einer Pandemie.
Und heute?
Shiller: Die Erinnerungen an das Narrativ der Great Depression sind mit der letzten Rezession in den USA, die dem National Bureau of Economic Research zufolge von Februar bis März 2020 Einzug hielt, wieder hochgekommen. Die Wirtschaftsauguren zeigten mit dem Finger auf eine Rezession, die es eigentlich gar nicht gab. Denn nach ihrer eigenen Definition ist eine Depression ein Rückgang, der mindestens einige Monate anhält.
Welches sind die wichtigsten Aspekte, die Sie vor diesem Hintergrund in den Blick nehmen?
Shiller: In der Tat ist es für mich auffallend, wie unterschiedlich Ökonomen in der Öffentlichkeit über Inflation denken. Ich lasse Umfragen mittels Fragebögen durchführen, um die einzelnen Haltungen näher zu verstehen und sehe mir mit besonderem Interesse die Kommentare an, die die Teilnehmenden dazu abgeben. Auffällig ist: In letzter Zeit erwähnt niemand einen Realzinssatz, einen inflationsbereinigten Zinssatz. Derweil ist der US-Aktienmarkt erhöht und das CAPE-Ratio ist erhöht, liegt aber nicht auf einem Rekordhoch.
Was folgt daraus?
Shiller: Zu erwarten ist, dass die reale Rendite auf dem Aktienmarkt in den nächsten zehn Jahren in einem Bereich von 2 bis 3 Prozent pro Jahr liegt. Es wird weiterhin Geld verdient, aber die Erträge sind nicht spektakulär. Die Nominalrendite bei Aktien wird daher nicht so hoch wie früher ausfallen, aber es gibt sie noch. Das bedeutet keinesfalls, dass ich nicht beunruhigt bin über einen Crash im Markt. Es fühlt sich derzeit ein bisschen an wie 1929, auch wenn das CAPE-Ratio nicht so hoch ist, wie damals. Es ist daher gut, dass wir eine Geldpolitik und damit Währungshüter haben, die das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen und es nicht enttäuschen dürfen.
Die Zinsen der Geldpolitik haben breite Wirkungen: Wie schätzen Sie das Fortkommen des US-Immobilienmarkts ein?
Shiller: Ich vertraue hier auf meine eigenen Hauspreisindizes, die Case-Shiller-Hauspreisindizes. Die jüngsten Daten zeigen, dass der Wohnungsmarkt in den Vereinigten Staaten schrumpft. Während der Aktienmarkt teils stark volatil ist, entwickelt sich der Immobilienmarkt in langfristigeren Wellen. Daher ist die Tatsache, dass wir über mehrere Monate sinkende Hauspreise in den Vereinigten Staaten hatten, ein Zeichen dafür, dass wir uns in einer Phase des Rückgangs befinden, die wahrscheinlich ein Jahr oder länger anhalten und zu niedrigeren Hauspreisen führen wird.
Das ganze Gespräch mit Robert J. Shiller gibt´s hier im Video. Synrochinisert wird der Yale-Professor von Peter Ehlers, geschäftsführender Gesellschafter der Edelstoff Media und Herausgeber von Das Investment und dem private banking magazin.
Und auch der Wohnungsmarkt wird von Narrativen beeinflusst?
Shiller: Blicken wir noch einmal in die Geschichte zurück: 1919 wurde in den US-Zeitungen viel von Wohnungen als Investition gesprochen. Man nannte das die „Own Your Own Home“-Bewegung. Es lag im Trend, in sein eigenes Heim zu investieren, anstelle im Geschosswohnbau die Tür aufzuschließen. Dadurch würde man beständigere Beziehungen haben, hieß es. Man würde Nachbarn über Jahre hinweg haben und die eigenen Kinder würden in einer besseren Nachbarschaft leben. Dieses Narrativ verbreitete sich auch in anderen Ländern.
Heutzutage hingegen geht die Angst um, dass finanzstarke institutionelle Investoren Wohnraum aufkaufen und man sich das eigene Heim nicht mehr leisten kann. Dabei hat eine FOMO-Panik die Preise getrieben; die „fear of missing out“, die Angst, etwas zu verpassen. Die Zinsen waren sehr niedrig und die Wirtschaft wuchs. Irgendwann kommt die Inflation, hieß es; besser jetzt rasch kaufen, lautete die Devise. Ein starkes Narrativ, das jetzt im Wirtschaftsabschwung nicht mehr Gültigkeit hat.