Risikomanagement in Banken Nach Turbozinswende: Warum Banken sich nicht zurücklehnen können

Sarin Arvind (links) und Tim Breitenstein von KPMG:

Sarin Arvind (links) und Tim Breitenstein von KPMG: Sie erklären, wie sich Banken nach der Zinswende im Risikomanagement aufstellen sollten. Foto: KPMG

Die Leitzinserhöhung der Europäischen Zentralbank (EZB) um 75 Basispunkte auf 2 Prozent Ende Oktober 2022 war bereits die dritte Zinserhöhung in diesem Jahr. Und auch wenn der nächste Zinsschritt, über den die EZB in ihrer Sitzung am 15. Dezember entscheidet, kleiner ausfällt: Die Richtung wird die gleiche bleiben.

Die Zinswende hat die lange Negativ- und Niedrigzinsphase beendet und beeinflusst viele Bereiche des Interest rate risk in the banking book (IRRBB)- und Credit rate risk in the banking book (CSRBB)-Managements. Das gilt umso mehr, da die Inflation aufgrund exogener Schock ebenfalls steigt und es aufgrund der langen Niedrigzinsphase an empirischen Daten zum Kundenverhalten mangelt.

Banken betreten unbekanntes Terrain

Die Gemengelage macht die derzeitige Situation für Banken zu unbekanntem Terrain, auf dem frühere Grundsätze nicht mehr uneingeschränkt gelten und Finanzinstitute gut beraten sind, sich auf unterschiedlichste Szenarien vorzubereiten. Unsere Empfehlung: Banken sollten ihre Simulationen insgesamt breiter aufstellen und einigen — in der Vergangenheit weniger wichtigen — Parametern eine größere Bedeutung beimessen. Dazu gehören aus unserer Sicht vor allem folgende Aspekte:

  1. Extremszenarien: Das bisher oftmals als unrealistisch kritisierte Szenario von +/- 200 Basispunkten in kürzester Zeit ist nun nahezu eingetreten. Chief Risk Officer (CROs) sollten daher solche und weitere Extremszenarien mit mehr Ernsthaftigkeit betrachten und sich mit ihrem Zinsänderungsmanagement auch darauf vorbereiten.

  2. Hohe Volatilität: Risikomanager sollten die zahlreichen (Neben-)Effekte, die Zinsveränderungsszenarien verursachen können, in Simulationen berücksichtigen. Denn: Sowohl die Zinssätze als auch Credit-Spreads sind heute und in absehbarer Zukunft volatiler als in den vergangenen Jahren und bewirken hohe Risikometriken (zum Beispiel Value at Risk gemäß historischer Simulation).

  3. Inflation: Auch wenn die Inflation für Banken normalerweise eine geringere Bedeutung hat als die Marktzinsen, sollte sie in übergreifenden Stresstest-Simulationen berücksichtigt werden — zum Beispiel mit Blick auf Volumen, Marge und Gebühren. Insbesondere bei den Szenarien durch die Zentralbank spielt die Inflation eine Rolle, da die EZB auch Informationen zu Szenarien mit unkontrollierter Inflation einholt. Zudem verhindert eine hohe Inflation bei wirtschaftlichem Abschwung die Möglichkeit der EZB, durch Zinssenkungen gegenzusteuern — ein Effekt, den Finanzinstitute in ihren makroökonomischen Szenarien berücksichtigt sollten.

  4. Netto-Zinseinkommen: Die letzten Monate war die Lage für Banken komfortabel: Steigende Zinseinkommen und stagnierende Einlagenzinsen bescherten den Instituten oft positive Auswirkungen auf das Netto-Zinseinkommen. Allerdings haben Banken bereits damit begonnen, die Zinsen auf Sicht- und Spareinlagen (Non Maturing Deposits, NMDs) zu erhöhen. Es ist zu erwarten, dass die Institute Einlagenzinsen weiter erhöhen werden, um ihre Einlagen stabil zu halten. Risikomanager sollten in jedem Fall frühzeitig die Auswirkungen etwaiger weiterer Zinsänderungen auf das Zinseinkommen messen und managen.

  5. Accounting-Effekte: Risikomanager sollten Accounting Effekte berücksichtigen, auch wenn auf den ersten Blick weder Risiko für den Wert der Bank noch für das Nettozinseinkommen besteht. Denn: Ein Zinsanstieg kann Bewertungsergebnisse im Accounting auch ohne „ökonomisches“ Zinsänderungsrisiko verursachen („Accounting Mismatches“). Für entsprechende Berechnungen rücken Accounting-Techniken sowie ganzheitliche ALM-Aktionen stärker in den Fokus – sowohl bei den Banken selbst als auch bei der Aufsicht.

Prognose: Einlagenzinsen werden steigen

Auch wenn seit der Leitzinserhöhung kaum Bewegung bei den Einlagenzinsen zu beobachten war: Eine erste Großbank hat bereits im Oktober mit Zinserhöhungen auf Tages- und Termingeldern begonnen. Wir erwarten, dass andere Institute diesem Beispiel folgen und sich dadurch in den kommenden Wochen und Monaten Gelder von Girokonten auf Tages- und Termingelder verschieben. Dies sollten Finanzinstitute in ihren Szenarien einkalkulieren und entsprechende Vorkehrungen treffen.

Klar ist dabei: Die Datenhistorie über das Kundenverhalten der letzten Jahre kann hierfür nur sehr begrenzt als Anhaltspunkt herangezogen werden. Aus diesem Grund sind in der jetzigen Zeit umfassende Experteneinschätzungen sowie neue Validierungs- und Back-Testing-Ansätze notwendig.

Inflation aktuell wichtiger Parameter

Banken betrachten und managen häufig einzelne Risiken und betreiben eher selten explizites Inflationsrisikomanagement. In normalen Zeiten braucht es das auch nicht unbedingt, da die Inflation in der Bankensteuerung wie auch beim Setzen der Einlagenzinsen eine eher untergeordnete Rolle spielt. Allerdings befinden wir uns derzeit in einer Ausnahmesituation: Die von externen Schocks verursachte Inflation bewegt sich auf Rekordniveaus, wie es sie Jahrzehnte nicht gab. Sie belastet deshalb die Kunden überdurchschnittlich und beeinflusst ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten. Aus diesem Grund empfehlen wir in der aktuellen Situation, verstärkt auf ganzheitliche Simulationen zu setzen und hier unterschiedlichsten Faktoren, auch der Inflation, einen größeren Stellenwert beizumessen.

Höhere regulatorische Anforderungen

Vor allem Zinsänderungs- und Kreditspreadrisiko erlangen auch im Zuge der neuen Guidelines der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA) eine größere Bedeutung. Die EZB hatte nicht nur angekündigt, häufiger Prüfungen in Banken durchzuführen, sondern auch die genannten Parameter zukünftig genauer unter die Lupe zu nehmen. Die EBA hat zugrundeliegende regulatorische Anforderungen überarbeitet und stellenweise verschärft. So wird zum Beispiel das Credit-Spread-Risiko zur eigenständigen Risikoart. Es müssen sämtliche bilanziellen und außerbilanziellen Positionen auf ihre Credit-Spread-Sensitivität analysiert werden.

Aus den neuen Guidelines ergeben sich für CROs konkrete Handlungsempfehlungen: So sollten sie zum Beispiel für ihr Institut eine GAP-Analyse für IRRBB und CSRBB, eine Scope-Analyse für CSRBB sowie Testrechnungen für den neuen Supervisory Outlier Test der EBA durchführen. 

 

 

Die aktuelle Situation zeigt: Auch bislang als unrealistisch betrachtete Szenarien können Realität werden. Aus diesem Grund sollten Banken auch scheinbare Extremszenarien in ihre Simulationen berücksichtigen. Durch diesen in der Regel überschaubaren Mehraufwand können Finanzinstitute sich auch auf solche Extremszenarien frühzeitig vorbereiten.

Um die neue Situation zu meistern sowie die steigenden Anforderungen der Bankenaufsicht zu erfüllen, reicht das allein aber nicht aus. EZB sowie die nationale Aufsicht werden zukünftig vor allem IRRBB und CSRBB eine größere Bedeutung beimessen und noch genauer hinschauen als bislang. Banken müssen darüber hinaus ihre Risiken auf Aktualität und Vollständigkeit prüfen sowie deren Überwachung und Steuerung erweitern. Nur so können sie die finanziellen Einflüsse auf ihr Institut aktiv steuern und so die Ergebniseffekte beeinflussen.

Über die Autoren:

Arvind Sarin ist Partner im Bereich Financial Services bei KPMG. Er ist Experte für Risikomanagement und Treasury-Themen, Liquiditätsrisikomanagement, Zinsrisiko im Bankbuch, Structural-FX-Risiko sowie Gesamtbanksteuerung. Tim Breitenstein ist Director im Bereich Financial Services bei KPMG und auf Zinsänderungsrisiken, Einlagenmodellierung, Stresstesting sowie weitere Themen in den Bereichen Treasury und Gesamtbanksteuerung spezialisiert.

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