Reisebericht eines Family Officers Was in Europa Science Fiction ist, gehört in China zum Alltag

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Um diesen Eindruck zu vertiefen und hinter die Kulissen zu schauen, war ich unter anderem beim E-Commerce Unternehmen Alibaba eingeladen. Hier wurde der Vorsprung noch einmal beeindruckend offengelegt, wie folgende Beispiele stichpunktartig zeigen:

  • Alibaba hat sich ähnlich wie andere nationale chinesische Champions (beispielsweise Tencent, Baidu oder Netease) über das Angebot verschiedenartiger Dienstleistungen und Produkte sowie den Einsatz immer leistungsstärkerer AI-Algorithmen ein eigenes, digitales Ökosystem aufgebaut.
  • Der Konzern unterhält eine Vielzahl von Geschäftseinheiten, ist aber vor allem als weltgrößter Einzelhändler bekannt: Am so genannten Single Day – einem Feiertag, den Alibaba maßgeblich mit groß gemacht hat – setzte das Unternehmen zuletzt alleine mehr als 25 Milliarden US-Dollar um. Zum Vergleich: Sämtliche Online-Händler in den USA setzten am Cyber Monday 2018 nicht einmal 10 Milliarden US-Dollar um.
  • Alibaba ist weit mehr als ein reines E-Commerce-Unternehmen: Eine Vielzahl von zusätzlichen Dienstleistungen, insbesondere im Finanzbereich, werden angeboten und abgewickelt. Die vor ein paar Jahren gegründete Fintech-Tochtergesellschaft Ant Financial (vormals Alipay) hat bereits eine Bewertung von mehr 150 Milliarden US-Dollar. Deren Geldmarktfonds „Tianhong Yu’e Bao“ ist der größte der Welt. Circa 600 Millionen Nutzer haben ihn oft mit Minimalbeträgen auf ihren Kunden-Accounts fast über Nacht dazu gemacht.
  • Der Dienst „Sesame Credit“ von Ant Financial ist ein Credit-Rating-Scoring-System. Unendliche Mengen an Daten von Alibabas Nutzern – Konsumenten, Marktplätze oder andere Alibaba-Unternehmen und –Services – fließen in das computergesteuerte Rating ein. Dazu kommen öffentlich Daten der Regierung – ob es um die Identifizierung oder andere in westlichen Ländern hoch vertrauliche Daten geht. Damit können Kredite innerhalb von Sekunden, alleine vom Computer, vergeben werden.

Viele weitere Faktoren und Beispiele könnten hier aufgeführt werden. Fest steht für mich: Chinesen sind pragmatisch denkende Menschen. Solange der Service gut ist, der Preis stimmt und es ihnen sowie ihren Kindern dadurch besser geht – und dem Westen dadurch die Kraft des wieder erstarkten Chinas aufgezeigt werden kann – werden derartige Dienste gerne in Anspruch genommen und bedenkenlos vergütet.

Für uns als Investoren bedeutet das: Chinas Wirtschaftswachstum sollte mittel- und langfristig Unterstützung finden. Wenn wir in Zukunftstechnologien rund um AI und IoT investieren wollen, kommen wir an China und an den dort ansässigen Firmenchampions nicht vorbei. Dies gilt nicht für die hier besprochenen Themen, sondern auch in anderen Sektoren, ob dies die E-Mobilität im Fahrzeugbereich oder den technologischen Fortschritt in der Medizin und im Gesundheitswesen betrifft. Viele künftige Weltkonzerne aus diesen Branchen werden nicht mehr unbedingt aus Europa und USA, sondern insbesondere aus dem Reich der Mitte stammen.

Bei Zukunftsthemen wie AI und IoT wird es die alte Welt immer schwerer haben, denn ihr fehlt nicht nur der politische Wille und die gesellschaftliche Weitsicht, sondern auch die Durchsetzungskraft, um die Bereiche auch infrastrukturseitig (Forschung, Geldmittel, Arbeitsplätze) attraktiv zu gestalten. Die USA können sich zumindest noch zugutehalten, hier als Konkurrent Chinas zu gelten. Von uns Europäern will ich gar nicht sprechen. Dass wir hinterher hinken, wäre freundlich formuliert –  setzt es doch voraus, dass wir uns überhaupt bewegen.

 

Über den Autor:
Patrick Picenoni ist Gründungspartner und Vorstand der Altrafin Gruppe, einem Züricher Vermögensverwalter mit Schwerpunkt auf Unternehmerfamilienvermögen. Als Vorstand des Fondsmanagers, der Altrafin Advisory, ist er für das Portfoliomanagement der Conren-Fonds verantwortlich.

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