Reisebericht eines Family Officers Was in Europa Science Fiction ist, gehört in China zum Alltag

Viele Beobachter sehen die globale Konjunktur-Zugmaschine China in akuter Gefahr. Verübeln kann man ihnen das kaum. Tatsächlich wächst das Riesenreich seit einigen Jahren spürbar weniger schnell als zuvor. Eine erdrückend hohe Schuldenlast sowie eine Fülle an faulen Krediten bei einer Reihe von Staatsfirmen aus kaum zukunftsfähigen Industriezweigen sorgen für zusätzliche Skepsis unter Investoren. Wahr ist: Für die Weltwirtschaft ist China zurzeit wichtiger denn je. Wahr ist aber auch: Der Rest der Welt wird für das künftige Wachstum Chinas weniger relevant sein.

Keine Frage: Die von Staats- und Parteichef Xi Jinping mit dem Label „Made in China 2025“ versehene Umstellung von einer Export- und Volkswirtschaft auf mehr Inlandsnachfrage und mehr technologiegestützte Geschäftsmodelle ist ein enormer Kraftakt. Doch die Umstellung wird – wie die meisten Wirtschaftsreformen in der 70 Jahre jungen Volksrepublik – schlussendlich gelingen. Denn bei diesem Wandel hat China zwei im Westen oft übersehene Asse im Ärmel: Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence, kurz: AI) und das Internet der Dinge (Internet of Things, kurz: IoT).

Wer genau hinschaut, erkennt: Chinesische Unternehmen überflügeln in beiden Disziplinen oft bereits heute das amerikanische Silicon Valley, wenn es um Erfindergeist, Geschwindigkeit und Ertragskraft geht. Die rasant wachsende technologische Vernetzung von Hunderten von Millionen Bürgern verleiht diesem Trend zusätzlich Tempo.

Vor einigen Wochen war ich selbst in China unterwegs, um besser zu verstehen, wie es hier um die Wirtschaft allgemein und im Speziellen um Innovation rund um die zwei Asse im Ärmel bestellt ist. Denn beiden Bereichen –AI und IoT – messen wir im Rahmen einer unserer drei bis fünf wichtigen strategischen Investment-Themen eine zentrale Rolle für die Zukunft bei. Mein Eindruck vor Ort: Viele Dinge diesbezüglich sind in China – dank der tatkräftigen Unterstützung von staatlicher Seite – heute selbstverständlich, die wir Europäer noch für pure Science Fiction halten.

Ein kurzer Blick zurück erklärt verblüffender Weise, weshalb China gegenüber Europa in diesen Belangen so weit voraus ist. Lange Zeit hatte die Bevölkerung, insbesondere außerhalb der dicht besiedelten Metropolen, wenig Alternativen, als Waren via Internet zu bestellen. Für viele Unternehmen wäre ein physisches Ausrollen ihrer Infrastruktur – also der Aufbau eines weit verzweigten Filial- und Niederlassungsnetzes – aufgrund der schieren Größe des Landes ökonomisch zudem nicht sinnvoll gewesen.

Als Folge übersprang der Einzelhandel in China eine komplette Entwicklungsstufe: Der stationäre Verkauf erlangte niemals jene Bedeutung, die er in den alten Märkten wie Europa oder den USA einst innehatte. Ähnliches gilt für andere Bereiche: Auch bei Finanzdienstleistungen galt und gilt in China die Devise: online first!

Heute hat China mehr als 800 Millionen Internet-Nutzer. Die überwältigende Mehrheit, weit über 500 Millionen, bestellen und bezahlen ausschließlich online – viele davon zudem mobil. Die Gründe für diesen Vorsprung gegenüber der alten Welt und gegenüber Nordamerika sind auch eine Mentalitätsfrage: China verfügt über eine grundsätzlich technologie-affine Bevölkerung und damit potenzielle Kundenschar, eine schnell wachsende Menge an Daten sowie ein grundlegend anderes Verständnis hinsichtlich des Schutzes von persönlichen Daten inklusive der Privatsphäre – wie auch immer man aus westlicher Sicht dazu stehen mag. Last but not least sehen Chinesen im Bereich von Künstlicher Intelligenz vor allem die Chancen – insbesondere in ökonomischer, aber auch militärischer Hinsicht – und weniger die Risiken.

Wie weit uns China in diesen Belangen voraus ist, zeigen dem aufmerksamen Besucher alleine das Straßenbild und kurze Unterhaltungen mit Chinesen recht schnell. Es scheint so, als würden alle die Errungenschaften der Digitalisierung geradezu verehren: Das Alltagsleben spielt sich gleichzeitig und übergangslos sowohl in der wirklichen als auch in der virtuellen Welt ab. Vom täglichen Einkauf über Essensbestellungen, der Nutzung des Nahverkehrs, dem Austausch von Meinungen und Mitteilungen, dem Tätigen von Überweisungen oder der Geldanlage: Alles findet im Netz und zumeist mobil statt, oft simultan zum Restaurantbesuch oder in Meetings. Chinesen sind extrem experimentierfreudig und bezahlen, anders als wir, bereitwillig für diese Dienstleistungen. Banktransaktionen, die Aufnahme von Krediten oder der Abschluss einer Versicherungspolice gehen in China wie selbstverständlich und binnen weniger Minuten über die Bühne.