Stornoquoten bewegen sich am deutschen LV-Markt seit Jahren mit geringen Schwankungen im Branchenmittel zwischen 4-5 Prozent, somit erscheint der 40 Prozent-Stress deutlich unangemessen hoch. Für Versicherer mit hohen Biometrie-Anteilen wird dadurch teilweise die gesamte Modellstatik einseitig beeinflusst, indem das Massenstorno zum dominierenden Einzelrisiko wird und weitere unplausible Effekte resultieren – beispielsweise, dass bei einer recht hohen Ausgangs-Solvenzquote das Hinzunehmen von an sich ertragreichem Geschäft allein schon deshalb negativ auf die Solvenzquote wirkt, weil es ja zu 40 Prozent wieder verschwinden könnte.
Bei dem Review-Vorschlag ist dringend Nachbesserung seitens der Politik geboten
Es ist wichtig zu betonen, dass die Ausführungen keinesfalls primär aus Eigeninteresse getrieben sind, sondern aus der Sorge um fehlerhafte Modellierung und stark negative Wirkungen auf den deutschen Altersvorsorgemarkt insgesamt, und zwar letztlich für die Kunden. Als Leiter des Risikomanagements eines mittelständischen Lebensversicherers mit einer Solvabilitätsquote von 435 Prozent ohne Hilfs- und Übergangsmaßnahmen – selbst zum anspruchsvollen Zeitpunkt am Jahresende 2020 – könnte man die Wirkungen des Reviews an sich sehr gelassen sehen. Insbesondere nachdem aufgrund unserer Bestandsstruktur das Zinssenkungsrisiko in unserem Hause gar nicht ausschlaggeben ist – netto dominiert das Zinsanstiegsrisiko – und die Wirkung der verschärften Zinskurve in etwa von der Abmilderung der Risikomarge kompensiert wird.
Dennoch herrscht in dem Vorschlag zum Review ein solches Ungleichgewicht aus immer stärkerer Berücksichtigung von Risiken ohne entsprechendes würdigendes Pendant bei den Chancen, dass hier dringend Nachbesserung seitens der Politik geboten ist. Daneben ist meines Erachtens auch die Zunahme von Komplexität kritisch. Sowohl das Vorgehen bei der Zinskurve, beim VA, beim Equity Risiko – Unterscheidung in Typ I/II könnte problemlos entfallen – oder bei der Behandlung latenter Steuern wird immer mehr verkompliziert und mit weiteren Übergangszeiträumen überfrachtet, dass es dem Modellzweck einer vernünftigen und zeitlich kontinuierlichen Abbildung widerspricht.
Ähnlich gehen wir spezifisch deutsch auch im Rahmen des Branchensimulationsmodells mit immer neuen Ansprüchen an – vermeintliche – 100 prozentige Exaktheit bei der Abbildung neuer Tarifvarianten wie dynamische Hybridprodukte vor, deren Ergebnis-Mehrwert jedoch begrenzt und deren Zuwachs an tatsächlicher Akkuratheit zudem fraglich sind.
Im Berichtswesen werden neue, vereinheitlichte Sensitivitäten bezüglich der Solvenzquote im SFCR verlangt. Diese sind zur internen Steuerung wertvoll, allerdings ist es zweifelhaft, ob ein nicht mit dem Modell vertrauter Leser, die pragmatische Bedeutung dieser „Stress-nach-dem-Stress“-Solvenzquoten richtig einordnen und verstehen kann. Denn die Quote ist ja bereits Ausdruck einer Kapitalisierung in einem 99,5 Prozent-Stress-Szenario. Auch ist es im Grunde sehr positiv, den abseits von Analysten wenig gelesenen SFCR für Kunden auf 2-3 Seiten zu reduzieren.
Eine Entastung wäre jedoch nur dann gegeben, wenn man im Gegenzug auch die bisherigen Berichte entschlacken würde, in denen doch mehrheitlich beispielsweise zum rechtlich vorgegebenen Governance System für fast alle Gesellschaften und Jahre sinngemäß der gleiche Inhalt zu finden ist. Auch Inhalte, die im Wesentlichen Bilanzzahlen aus HGB/IFRS wiedergeben und somit eine Doppelberichterstattung darstellen, könnten problemlos entfallen.
Am Ende stellen sich auch noch viele Fragen zur Sinnhaftigkeit von vielen Änderungen, die am eigentlichen Review vorbei mittels einer Änderung der quantitativen Berichtspflichten an die Aufsicht (QRTs) angestoßen werden sollen. Diese führen zu erheblichem IT-Aufwand, teilweise wieder zu neuen doppelten Berichtspflichten, etwa beim Thema ESG, sind von ihrer Notwendigkeit manchmal fraglich, oder zumindest nicht im Kontext der Stabilität der Anbieter richtig aufgehoben.
Dies betrifft sehr spezielle Themen, wie beispielsweise das Reporting zum Thema Cyberrisiko oder umfangreiche Angaben zu Vertriebskosten pro Produkt. Abgesehen davon, dass diese rückwirkend betrachtet ziemlich wenig Steuerungsbezug haben, ist die Intention von Solvency II nicht der Produktvergleich. Auch auf eine Abschaffung der parallelen – vorläufigen – Q4 Quartalsmeldung, obwohl später die Jahresmeldung mit endgültigen Zahlen folgt, wartet die Branche wohl leider vergeblich.
Über den Autor: Andreas Billmeyer ist seit 2013 Leiter des Risikomanagements der Lebensversicherung von 1871 (LV 1871). Zuvor war er im Kapitalanlagen-Risikomanagement der Nürnberger Versicherung.