Wieder passen also die Bilanzseiten zeitlich nicht zusammen, denn würde man konsequent sein, müsste man selbstverständlich auch gegenüberstellen, was die Aktiva künftig wert sein dürften in einem Best Estimate Szenario. Ein solcher Best Estimate des Wertes der Kapitalanlagen am Ende der Laufzeit der Verpflichtungen wird sich aber in der realen – nicht risikoneutralen – Welt, mit unzweifelhaft vorhandenen Risikoprämien, nicht mit dem heutigen Wert decken. Wäre die reale Welt risikoneutral, so müssten bei langfristig negativen Zinsen die Werte eines konstanten Dividendenstroms ebenso wie die KGVs von Aktien gegen unendlich streben.
Man hat also im Grund beim Übergang von HGB nach Solvency II lediglich die Fehlrelation der zeitlichen Betrachtungshorizonte von „Aktiva gestern / Passiva heute“ in „Aktiva heute / Passiva morgen“ verschoben. Interessant erscheint mir auch zu betrachten, was im Solvency II Review gerade nicht behandelt wird. Das sind nämlich die Felder, an denen es weitaus naheliegender wäre, das Solvenzregime einer Runderneuerung zu unterziehen: Weiterhin werden Staatsanleihen – und die ähnlicher Emittenten, wie Länder, Provinzen, Gemeinden oder von diesen garantierte Anleihen – mit einem SCR von Null behandelt.
Diese politische Diskussion hat man wohl gescheut, weil Staaten auch ein Interesse haben, sich durch institutionelle Anleger zu finanzieren
Die Änderungsbedürftigkeit dieser Tatsache muss jeder Versicherer seit Jahren in seinem ORSA-Bericht (Own Risk and Solvency Assessment) würdigen und kann eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass in interner Sicht auch für diese Wertpapiere ein gewisses Maß an Risikokapital zu unterlegen ist. Oft sind dies für deutsche Häuser Emittenten mit guten Ratings – was in anderen Ländern der EU nicht ausnahmslos der Fall ist – sodass sich die Belastung insgesamt sogar in Grenzen hält. Es ist auch vorstellbar, bei Staaten eben etwas geringere Anforderungen an das Spread-Risiko zu stellen als bei Unternehmensanleihen mit gleichem Rating, jedoch sicher nicht Null.
Diese politische Diskussion hat man wohl gescheut, weil es Versicherer in Peripherieländern deutlich stärker getroffen hätte und Staaten auch ein Interesse haben, sich durch institutionelle Anleger zu finanzieren. Umgekehrt war deutscher Lobbyismus wohl deutlich weniger erfolgreich, wenn man sieht wie stark die Wirkung von Zinskurve und -risiko hierzulande in den Solvenzquoten des durchschnittlichen LVU einschlägt. Weiterhin sucht man vergeblich eine Reduktion der überhöhten Kapitalanforderung von derzeit 25 Prozent auf Immobilien. Diese wurde seinerzeit am Londoner Markt kalibriert und pauschal auf alle EU-Immobilien übertragen. Angesichts des Brexit mutet diese Konstellation inzwischen reichlich bizarr an. An quantitativen Analysen zu einem stattdessen angemessenen Wert von 10-15 Prozent mangelt es nicht.
Ähnlich verhält sich die Lage beim Massenstorno-Risiko, das pauschal mit einem sofortigen Abgang von 40 Prozent aller Versicherungsbestände in einem Jahr modelliert werden muss. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um ein Storno unter gewissen Annahmen – beispielsweise eines stark steigenden Zinspfads – dieses kommt in stochastischen Modellen noch hinzu, sondern um ein unbedingtes Massenstorno. Es beschränkt sich nicht auf kapitalbildende Tarife, sondern erstreckt sich auch auf biometrische Verträge, wie Berufsunfähigkeits- oder Todesfallversicherungen.
Verschärft wird dieser Punkt noch dadurch, dass für alle versicherungstechnischen Risiken auch noch ein künstlicher (Verpflichtungs)-Bilanzposten namens Risikomarge gebildet werden muss, der aus diesem Stornorisiko eine doppelte Belastung generiert – sowohl weniger Eigenmittel als auch höhere Kapitalanforderung. Zwar wird die Wirkung dieser Risikomarge insbesondere für sehr lange laufendes Geschäft im Zuge des Reviews erfreulicherweise reduziert, das Grundproblem jedoch bleibt.