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Zweitgrößte Volkswirtschaft Mythen und Realität mit Blick auf China

Aussetzen von Zuchtfischen im Süden Chinas

Aussetzen von Zuchtfischen im Süden Chinas: Mit der derzeitigen Null-Covid-Politik schadet China seiner Wirtschaft und bringt die globale konjunkturelle Entwicklung in Gefahr. Foto: Imago Images / Xinhua

Stephen Dover,
Franklin Templeton Institute

Für viele Menschen im Westen ist China ein Rätsel. Seine Sprache, Kultur und Geschichte bleiben für viele jenseits der Landesgrenzen undurchschaubar. Ich hatte das Glück, 1982 als einer der ersten US-Amerikaner in China zu leben und zu studieren und in den vergangenen 40 Jahren in China zu reisen, zu arbeiten und zu investieren.

Im Folgenden gehe ich auf fünf Mythen über Chinas Wirtschaft und sein Finanzsystem ein. Mit realistischeren Einschätzungen möchte ich Anlegern helfen, die Chancen und Risiken von Investitionen in China besser beurteilen zu können.

Mythos Nr. 1: China ist eine exportorientierte Wirtschaft

Der vielleicht größte Mythos im Zusammenhang mit Chinas rasanter Modernisierung und wirtschaftlicher Entwicklung ist, dass sein Wachstum „exportgesteuert“ verläuft. Das ist weit hergeholt, auch wenn es stimmt, dass alle erfolgreichen großen Volkswirtschaften in der Geschichte – einschließlich China – einen großen Teil ihres wirtschaftlichen Erfolgs ihrer Einbindung in den internationalen Handel verdanken. Exporte und Importe ermöglichen den Zugang zu größeren Märkten, zu Know-how sowie billigen Inputs und lassen einen starken Wettbewerb entstehen – alles Faktoren, die wirtschaftlichen Erfolg begründen. Chinas wirtschaftlicher Aufschwung ist jedoch in hohem Maß auf die erfolgreiche Einführung einer marktbasierten Binnenwirtschaft und auf die enorme Mobilisierung von Ersparnissen für Investitionen zurückzuführen.

Chinas Exportanteil ist laut Statista mit 19 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eher bescheiden. Damit rangiert die Volkswirtschaft auf Augenhöhe mit Brasilien und Indien und hat nur einen geringfügig höheren Exportanteil als Japan. Chinas Exportanteil am BIP ist um ganze zehn Prozentpunkte niedriger als in Ländern wie Kanada, Frankreich, Italien, Südafrika, der Türkei oder dem Vereinigten Königreich. China exportiert im Verhältnis zum BIP weniger als Russland (25 Prozent) oder als der Durchschnitt der Länder mit niedrigem, mittlerem oder hohem Einkommen weltweit. Nur im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, hier machen die Exporte laut Statista nur 10 Prozent des BIP aus, könnte man China als „exportorientiert“ bezeichnen.

Mit Warenausfuhren im Wert von mehr als 2,7 Billionen US-Dollar war China im Jahr 2021 allerdings der volumenmäßig größte Exporteur der Welt und hat damit die Vereinigten Staaten überholt. Inzwischen stammt jede zehnte weltweit exportierte Ware beziehungsweise Dienstleistung aus China. Doch aufgrund des gewaltigen Dollarwerts von Chinas beträchtlichen Exporten wird ein grundlegender Punkt schnell übersehen: China exportiert viel, weil es eine große Volkswirtschaft ist – doch seine Binnenwirtschaft übertrifft seine Exporte bei weitem.

Chinas Weg zum wirtschaftlichen Erfolg begann 1978, als Deng Xiaoping Marktreformen einführte, die eine enorme Mobilisierung von Ersparnissen zur Finanzierung von Investitionen auslösten. Durch die Entfesselung der Marktkräfte begann die chinesische Wirtschaft zu florieren. Ein wahrer Gigant ist China jedoch bei den inländischen Ersparnissen und den inländischen Investitionen, die jeweils mehr als 40 Prozent des BIP ausmachen und nach IWF-Angaben damit etwa doppelt so hoch sind wie in den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften.

Investitionen in den Wohnungsbau, das Verkehrswesen und die Energieinfrastruktur waren neben dem verarbeitenden Gewerbe die wichtigsten Triebkräfte für Chinas fünf Jahrzehnte andauernden Wachstumsschub. In den ersten drei Jahrzehnten der rasanten Entwicklung Chinas waren sowohl die Kapitalakkumulation als auch das rasche Produktivitätswachstum die Grundlage für den steigenden Lebensstandard.

In den vergangenen zwölf Jahren hat sich das chinesische Produktivitätswachstum verlangsamt – wie in den meisten Ländern der Welt. Darüber hinaus führen Bedenken über übermäßige Investitionen und ein nachlassendes Wachstum des Welthandels zu einem Überdenken der strategischen Wachstumspläne Chinas.

Mythos Nr. 2: China ist reich

Ein zweiter Mythos besagt, dass China ein reiches Land ist. Zwar gibt es in China eine große aufstrebende Mittelschicht und viele wohlhabende Familien, aber das Land ist überwiegend ein Land mit mittlerem Einkommen.

Nach Angaben der Weltbank lag das chinesische Pro-Kopf-Einkommen im Jahr 2020 bei knapp über 10.000 US-Dollar – ein bemerkenswerter Anstieg um das Zehnfache in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Dennoch beträgt das Pro-Kopf-Einkommen in China nur ein Viertel des Niveaus der Europäischen Union (EU) und ein Fünftel des US-Niveaus.

China wird oft mit einem reichen Land verwechselt, weil seine Gesamtwirtschaft so groß ist. Bereinigt um die relativen Preise (Kaufkraftparität) ist das jährliche BIP Chinas tatsächlich inzwischen so hoch wie das der Vereinigten Staaten oder der EU. Die Bevölkerung Chinas ist jedoch 4,4-mal so groß wie die der USA: Der Reichtum Chinas konzentriert sich stark auf die Großstädte und Ballungszentren entlang der Küste, während der westliche Teil Chinas weiterhin sehr arm ist und weiterer Entwicklung bedarf.

Die Tatsache, dass China, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, beim Lebensstandard immer noch zu den fortgeschrittenen Volkswirtschaften aufschließt, könnte es dem Land ermöglichen, weiterhin schnell zu wachsen und sich in der Wertschöpfungskette dem Niveau der Vereinigten Staaten, Japans und Westeuropas anzunähern. Um dies zu erreichen, muss sich China kontinuierlich anpassen und weiterentwickeln, indem es umfangreiche Ressourcen von der Produktion und dem Baugewerbe in den Dienstleistungssektor verlagert und zu den globalen Technologieführern aufschließt. Zugleich hat Chinas Führung die Angleichung der Einkommen zu einem wichtigen Ziel erklärt. Auch dazu muss China seine Wirtschaft neu ausrichten, um mehr Wachstum zu fördern und gleichzeitig den Wohlstand breiter zu verteilen.