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Marktmeinungen „Größere Gerechtigkeit ist für die Wirtschaft gut“

Jerome Powell, Chef der US-Notenbank

Jerome Powell, Chef der US-Notenbank: Viele Anleger sind angesichts fiskalischer und geldpolitischer Anreize derzeit eher optimistisch. Ihnen sollte aber bewusst sein, dass die wirtschaftliche Erholung nicht geradlinig verlaufen dürfte Foto: imago images / Starface

Sonal Desai: „Die USA durchlaufen eine Phase, die einer intensiven Sinnsuche gleicht“

Sonal Desai, Investmentchefin Franklin Templeton Fixed Income Group

Viele Analysten versuchen sich darin, die Art der Konjunkturerholung nach Covid-19 vorherzusagen. Möglich ist eine kräftige „V-förmige“, eine langsamere, „U-förmige“ oder eine „L-förmige“ Erholung, bei der die Krise länger anhält. Wir halten derzeit an unserem Basisszenario fest, das annualisiert auf Quartalsbasis eine ziemlich kräftige Erholung vorsieht. Ganz gleich, welcher Buchstabe zur Beschreibung verwendet wird, könnte es sich nach unserer Auffassung um die schwerste, aber zugleich auch kürzeste Rezession der US-Geschichte handeln. Es klingt abgedroschen, doch wir erleben beispiellose Zeiten.

Die USA durchlaufen gegenwärtig eine Phase, die einer längst überfälligen und dringend benötigten, intensiven Sinnsuche gleicht. Zeiten wie diese bringen natürlich auch politischen Opportunismus hervor, das lässt sich zweifelsohne auf allen Seiten beobachten. Angesichts der aktuellen, sehr tragischen Ereignisse in den USA müssen wir uns bewusst sein, dass die US-Wahlen erst in vier Monaten stattfinden. Obwohl die Umfragen die Demokraten deutlich vorne zu sehen scheinen, kann sich noch vieles ändern. Wie wir wissen, brummte die US-Wirtschaft noch vor fünf Monaten auf Hochtouren. In den kommenden Monaten werden wir viele Einzelheiten über die Programme der Kandidaten erhalten und durch aussagekräftigere Umfragen einschätzen können, wie sich deren Zielsetzungen auf den Markt auswirken werden.

Unabhängig vom Wahlausgang im November kann das Ausmaß der Unsicherheit in Bezug auf den künftigen politischen Kurs der USA kaum genug betont werden. In den kommenden Monaten werden wir mehr Details über die Programme der demokratischen Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten erhalten, so dass wir unseren Ausblick für die einzelnen Sektoren verfeinern können. Bei den Republikanern ist der Ausblick im Falle eines Sieges klarer. Sofern der Präsident und die Kongressmehrheit verschiedenen Parteien angehören, wird jede neue Regierung Schwierigkeiten haben, die Politik drastisch zu verändern.

Insgesamt sollten Anleger nach unserer Überzeugung jetzt aktiv vorgehen. Mehr denn je kommt es auf die sorgfältige Auswahl von Ländern, Sektoren, Anlageklassen und innerhalb der Anlageklassen von Branchen und einzelnen Unternehmen an. Die Bedeutung eines durchdachten, kompetenten Bottom-up-Research kann im aktuellen Umfeld nicht genug betont werden. Und nicht zu vergessen ist: Die Risiken für den Konjunkturausblick sind sehr real.

Stephen Dover: „Die Arbeitskosten in China und den USA nähern sich an“

Stephen Dover, Head of Equities bei Franklin Templeton Group

Ungeachtet der Infektionszahlen-Entwicklung von Covid-19 zeigt die Robustheit der Aktienmärkte, dass die Anleger ihren Fokus weltweit vorwiegend auf die Maßnahmen der Notenbanken und die staatlichen Konjunkturanreize richten und wirtschaftliche Fundamentaldaten und das hohe Maß an Unsicherheit rund um den Verlauf der Pandemie ignorieren. Meldungen über Infektionsraten, mögliche Impfstoffe und bessere Medikamente und Therapien dürften die Märkte aber weiterhin in Atem halten.

Die zentrale Frage für die Zukunft lautet: Legen die Aktienmärkte infolge der geldpolitischen und fiskalischen Reaktionen weiter zu? Oder könnte irgendetwas die Anleger aus der Bahn werfen? Bei geldpolitischer Straffung sehen wir in der Regel Bärenmärkte. Hierzu dürfte es aus meiner Sicht wohl nicht kommen. Dieses Mal könnten wirtschaftliche Enttäuschungen anstelle einer kräftigen, „V-förmigen“ Erholung der negative Katalysator sein. Die Märkte werden gegenwärtig von mehreren Faktoren beeinflusst. Zwei ganz wesentliche Treiber sind die historischen Unruhen in den USA im Zusammenhang mit dem Rassenkonflikt sowie die anstehenden US-Wahlen.

Dass sich so viele Unternehmen zur Ungerechtigkeit zwischen Bevölkerungsgruppen und zu gesellschaftlichen Belangen äußern, ermutigt mich sehr. Sofern die sozialen Unruhen nicht angesprochen werden, könnten sie die Gesamtwirtschaft beeinträchtigen. Mehr Diversität und größere Gerechtigkeit sind aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht gut. Die Geschäfte der Unternehmen werden mehr denn je durch ihr Engagement bei gesellschaftlichen Themen beeinflusst. Viele, wenn nicht gar die meisten börsennotierten Unternehmen verfolgen inzwischen ein breiter gefasstes Stewardship-Modell für ihre Interessenträger. Nach meiner Auffassung werden sich Investments mit einem Fokus auf Umwelt, Soziales und Governance (ESG) zunehmend durchsetzen, und viele Anleger werden nach Unternehmen suchen, die diese Themen ernst nehmen.

Die US-Präsidentschaftskandidaten verkörpern zwei der am stärksten divergierenden politischen Ansätze seit langem. Sie unterscheiden sich teils eklatant bei den Themen Erholung von Covid-19, Steuersystem, Rolle des Staates im Gesundheitswesen, Einwanderung und Arbeitskräfte, Umgang mit dem Klimawandel und der Frage eines unilateralen oder multilateralen Ansatzes in der Außenpolitik.

Das Ergebnis der Kongresswahlen ist genauso wichtig wie das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen. Am Markt könnte die Volatilität zunehmen, je näher der Wahltermin rückt. Die Märkte haben die Möglichkeit einer deutlichen Erhöhung der persönlichen Kapitalertragsteuer oder der Körperschaftsteuer sowie eine zusätzliche wirtschaftliche und ökologische Regulierung für den Fall eines demokratischen US-Präsidenten und einer Mehrheit im US-Kongress noch nicht eingepreist. Zudem dürften Unternehmen und Sektoren, die von einem Doppelsieg der demokratischen Partei profitieren würden, stärker in den Blickpunkt geraten.

Einer der wirtschaftlichen Trends könnte künftig der Umbau der Lieferketten sein, um sie aufgrund von Handelsspannungen, geopolitischen Konflikten und Kostenfragen näher an die Industrieländer zu holen. Nach meiner Auffassung wird es eine starke Bewegung zurück in die USA und insbesondere in deren Mittleren Westen geben. Die Differenz zwischen den Arbeitskosten im verarbeitenden Gewerbe in China und den USA ist drastisch gesunken, da die Arbeitskosten in China in den vergangenen Jahren stark gestiegen sind. Darüber hinaus sind wachsende Durchdringung mit Automation und Robotik sowie niedrigere Energiekosten und höhere Produktivität in den USA für die Branchen gute Argumente für eine Rückkehr in die USA. Der Nebeneffekt: Die Wirtschaft, derzeit zu rund 70 Prozent vom Konsum abhängig, wird strukturell breiter und damit ausgewogener aufgestellt.