Kommentar von David Folkerts-Landau Wenn Zentralbanker die Orientierung verlieren

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In der Retrospektive hätte sich die EZB niemals anmaßen dürfen, die Rolle der Retterin der Eurozone zu übernehmen. Und ihr Präsident handelt unredlich, wenn er die Politiker der Tatenlosigkeit bezichtigt. Vielmehr hat er selbst dazu beigetragen, dass schwere Entscheidungen aufgeschoben wurden.

Eine nachhaltigere Lösung wurde so verhindert und unser demokratisches Gefüge geschwächt. Je länger die Politik vergeblich versucht, Stabilität herzustellen, und dabei für zahllose Verwerfungen an den Anlagemärkten sorgt, desto stärker gerät unsere Demokratie in Gefahr, was wiederum zu einer Aufsplitterung der politischen Kräfte führt und Politikern am rechten und linken Rand Aufwind gibt. 

In Deutschland hat die kontroverse Diskussion über die Politik der EZB zum Beispiel einen Punkt erreicht, an dem Finanzminister Wolfgang Schäuble die Zentralbank angeblich sogar zu 50 Prozent für den Erfolg der rechtspopulistischen AfD bei den letzten Wahlen verantwortlich macht.

Zeitgleich kritisierte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag die EZB im April scharf für ihre Nullzins- oder Negativzinspolitik und stellte mit ihrer Forderung an die Bundesregierung zum Handeln indirekt die Unabhängigkeit der EZB in Frage.

Welche Alternativen gibt es?

Vorrangiges Ziel sollte sein, die durch die expansive Geldpolitik erzeugte Abwärtsspirale eines Vertrauensverlusts zu durchbrechen. Die EZB sollte daher eine möglichst baldige Abkehr von ihrer Negativzinspolitik in Erwägung ziehen. Positive Zinsen hätten in der gesamten Eurozone sofort vertrauensbildende Wirkung. Sparer würden jubeln, während der geringe Anstieg der Finanzierungskosten für Kreditnehmer und Anleger durch die positiven Signale einer solchen Kursänderung kompensiert würde. 

Modelle deuten an, dass die Zentralbanksätze schon derzeit zu niedrig sind. Der deutsche Sachverständigenrat kommt aufgrund einer Modellanalyse zu dem Schluss, dass der Refinanzierungssatz der EZB bereits Ende letzten Jahres ein nicht mehr zu rechtfertigendes Niveau erreicht hat.

Unsere eigenen Schätzungen auf Basis der Taylor-Regel lassen ebenfalls auf eine zu laxe Geldpolitik schließen. Auf Basis unserer Prognosen für Inflation und BIP-Wachstum, die sich fast mit den EZB-Prognosen decken, ergibt sich in den kommenden Jahren eine zunehmende Abweichung, zu dem vom Markt erwarteten Zinspfad der EZB.

Natürlich sollte die EZB nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die von Vorsicht geprägte Grundhaltung, die die Federal Reserve nach ihrem ersten Zinsschritt vergangenen Dezember eingenommen hat, ist ein klarer Beleg dafür, dass mit Bedacht gehandelt werden muss. Mit zunehmender Manifestierung der Kollateralschäden der aktuellen Strategie nicht nur an den Finanzmärkten, sondern auch in der Realwirtschaft und der Politik, sollte die EZB die Märkte indes allmählich auf eine erste Zinserhöhung vorbereiten.

Gleichzeitig gilt es, schrittweise wieder für eine marktbasierte Risikobewertung am Markt für Staatsanleihen zu sorgen. Die EZB sollte sich zurücknehmen und nicht länger den Rettungsanker für Papiere finanzschwächerer Staaten spielen.

Vielmehr muss die Zentralbank den politischen Kräften vertrauen, Lösungen für das unausweichliche Schuldenproblem und Krisenherde in einem oder mehreren Mitgliedstaaten zu finden, und sich darauf konzentrieren, Schuldenprobleme eines Landes nicht auf die nationalen Bankensysteme, die als Bindeglied zur Geldpolitik fungieren, übergreifen zu lassen. Um das Wachstum auch für die kommenden Jahre zu sichern, muss wieder ein Anreiz für die Regierungen geschaffen werden, Strukturreformen umzusetzen.

Eine politische Kehrtwende ist nie leicht, doch 1979 stellte Fed-Chairman Paul Volcker unter Beweis, dass selbst die Fed fähig ist, ihre Sicht der Dinge grundlegend zu überdenken. Die Eurozone braucht eine ähnliche Kehrtwende, bevor es zu spät ist.

Je länger an einer radikalen Geldpolitik festgehalten wird, desto stärker wird die Geduld von Ländern wie Deutschland strapaziert. Der aktuelle Kurs schadet nicht nur der Wirtschaft, sondern hinterlässt auch politische Spuren – die Eurozone verliert an Rückhalt und Kritiker finden zunehmend Gehör.

Selten hatte eine Institution so viel Einfluss auf die wirtschaftliche und politische Zukunft eines ganzen Kontinents. Doch in diesen Zeiten gilt es, nicht sklavisch einem zweifelhaften Wirtschaftsdogma zu folgen, sondern sich stattdessen auch auf den gesunden Menschenverstand zu besinnen. Mit dem Festhalten an ihrer unorthodoxen Geldpolitik bringt die EZB in zunehmendem Maße das Projekt Europa in Gefahr – ganz im Gegensatz zu ihrer eigentlichen Absicht.


Über den Autor:
David Folkerts-Landau ist Chefvolkswirt und Global Head of Research der Deutschen Bank. Vor seinem Eintritt in den Bankkonzern im Jahr 1997 leitete er für 16 Jahre den Bereich International Capital Markets Surveillance and Financial Markets Research beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Der 67-Jährige studierte an der Harvard University und promovierte an der Princeton University zum PhD in Economics. Er hat mehrere Bücher und zahlreiche Fachartikel zu Themen der Finanzökonomie veröffentlicht.

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