private banking magazin: Bei der medialen Stimmung rund um den deutschen Mittelstand müsste man meinen, deutsche Unternehmer und Vermögende hätten im vergangenen Jahr scharenweise das Land verlassen. Entspricht das der Realität?
Jacopo Zamboni: Der deutsche Mittelstand denkt langfristig und über Generationen hinweg. Kurzfristige Stimmungen spielen da eine nachgeordnete Rolle. Wir sehen, dass deutsche Staatsbürger bereits seit einigen Jahren verstärkt auf uns zukommen und sich Gedanken machen, im Hinblick auf Aufenthaltsrecht und Staatsbürgerschaft. Hinzu kommt, dass deutsche Staatsangehörige seit Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsmodernisierungsgesetz (StARModG) im vergangenen Juni eine ausländische Staatsangehörigkeit auf Antrag erwerben können, ohne ihre deutsche Staatsangehörigkeit zu verlieren. Beibehaltungsgenehmigungen sind somit nicht mehr erforderlich. Diese Entwicklung dürfte den laufenden Trend weiter verstärken. Wenn man sich außerdem unseren Private Wealth Migration Report 2024 ansieht, liegt Deutschland bei der absoluten Zahl der Millionäre auf Platz 3. Deutschland ist aber nicht einmal unter den Top 10, wenn es um die „Abwanderung“ von Millionären geht. Die Wegzugsbesteuerung hindert viele daran, tatsächlich umzuziehen – die Mehrheit strebt lediglich einen Zweitwohnsitz oder einen Zweitpass an, für den Fall, dass diese Zeit irgendwann kommt, wenn überhaupt.
Suchen Deutsche mehr Staatsbürgerschaften oder weniger? Und welche Staatsbürgerschaften sind für deutsche Vermögende besonders interessant?
Zamboni: Wenn wir den Zeitraum der vergangenen fünf Jahre betrachten, hat sich die Zahl der Deutschen, die eine andere Staatsbürgerschaft erwerben oder Aufenthaltstitel in einem anderen Staat suchen, etwa verdreifacht. In den vergangenen sechs Monaten sind die Anfragen hochgeschnellt. Besonders interessant sind für Deutsche einige Karibikstaaten. Antigua und Barbuda, Grenada sowie St. Kitts und Nevis führen die Liste der von deutschen Staatsbürgern am häufigsten nachgefragten Programme an. Diese Länder bieten stabile, neutrale Plattformen für die globale Mobilität und liegen außerhalb der großen geopolitischen Spannungen. Aber auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Australien und Neuseeland verzeichnen zunehmendes Interesse. Deutsche Staatsbürger suchen in der Regel nach einer zweiten Staatsbürgerschaft oder einem Aufenthaltstitel in Ländern, wo sie aufgrund ihrer persönlichen Situation ein zweites Standbein aufbauen wollen. Oft denken sie dabei auch bereits an ihre Nachkommen – im Sinne einer generationenübergreifenden Planung.
Die Gesamtzahl der Millionäre, die weltweit ihren Wohnsitz verlegen, ist nach der Corona-Pandemie rasant gestiegen. Wird der Trend anhalten?
Zamboni: Die Corona-Pandemie hat mit ihren drastischen Einschränkungen der individuellen Mobilität bei vielen unserer Kunden dazu geführt, einen zweiten Pass oder Aufenthaltstitel als erstrebenswert zu erachten. Die anhaltenden geopolitischen Konflikte dürften dieses Bedürfnis noch weiter verstärken. Auch wenn die wieder aufkommende Diskussion über die Wehrpflicht angesichts zunehmender Sicherheitsbedenken in verschiedenen europäischen Ländern zu dieser Entwicklung beiträgt, würde es zu kurz greifen, diese als Hauptauslöser zu betrachten. Infolge der beispiellosen Instabilität und Ungewissheit wenden Investoren und wohlhabende Familien bereits heute eine umfassende geopolitische Arbitrage. Sie wollen zusätzliche Wohnsitz- und Staatsbürgerschaftsoptionen erwerben, um sich gegen rechtliche Risiken abzusichern und Unterschiede in den rechtlichen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen der verschiedenen Länder zu nutzen. So schaffen sie die Voraussetzung dafür, ihre persönliche, finanzielle und lebensstilbezogene Situation zu optimieren.
Typischerweise handelt es sich um russische Oligarchen, die Steuern sparen und EU-Sanktionen entgehen wollen – was ist an diesem Klischee dran?
Zamboni: Es ist ein Klischee, dem ich entschieden widerspreche. Unsere größte Kundengruppe sind US-Staatsangehörige – seit Jahren. Ihr Anteil nimmt weiter zu, aus den bereits genannten Gründen. Sie suchen die Flexibilität. Wir sprechen hier von Unternehmern, die weltweit investieren und die Möglichkeit haben wollen, über längere Zeiträume im Ausland zu leben und zu arbeiten. Steuerliche Erwägungen spielen hingegen kaum eine Rolle. Denn US-Staatsangehörige sind mit ihrem Welteinkommen in den USA, unabhängig von ihrem Wohnsitz, immer unbeschränkt steuerpflichtig. Russische Staatsangehörige spielen in der Praxis keine Rolle.
Was sind die wichtigsten Ursachen dafür, dass Vermögende migrieren?
Zamboni: In erster Linie suchen unsere Kunden Flexibilität. Sie wollen sich unabhängiger machen von ihrem Wohnort. Je nach den persönlichen Umständen spielen dabei Aspekte wie das individuelle Sicherheitsbedürfnis eine ausgeprägtere oder geringere Rolle. Viele Deutsche und US-Kunden, möchten einfach nur sicher sein, dass sie in so viele Länder wie möglich einreisen und sich dort aufhalten können, ohne ein Visum zu benötigen oder die Tage des Aufenthalts zählen zu müssen. Diese Flexibilität wollen sie mit attraktiven Investitionsmöglichkeiten verbinden, beispielsweise in Luxusimmobilien. Bei anderen überwiegen wirtschaftliche Überlegungen: Das sind vor allem diejenigen, die noch unternehmerisch tätig sind und die sozioökonomischen Veränderungen im Blick haben, die Deutschland durchläuft. Es handelt sich um eine exportorientierte Wirtschaft, und sie sind sich bewusst, dass es erhebliche Risiken gibt, dass dies eine tragfähige Lösung für die Zukunft ist. Sie versuchen daher, in mehreren ausländischen Rechtsordnungen Fuß zu fassen, wo sie ihre Geschäfte zu gegebener Zeit schnell ausbauen können.
Über den Interviewten:
Jacopo Zamboni ist Managing Partner bei Henley & Partners Switzerland in Zürich. Er berät Regierungen und internationale Organisationen sowie Privatpersonen in den Bereichen Staatsbürgerschaft und Investmentmigration.