private banking magazin: Die Welt blickt auf das Ergebnis der US-Wahl und die Konflikte im Nahen Osten und der Ukraine. Inwiefern haben diese Ereignisse Auswirkungen auf Emerging Markets?
Alessandro Tentori: Die Rohstoffmärkte dürften besonders betroffen sein. Primär denke ich hier an den Öl-Preis. Des Weiteren sind auch logistische Engpässe ein Faktor, etwa die Situation am Suezkanal und die damit verbundenen Frachtkosten inkl. Lieferzeiten. Zuletzt darf man nicht vergessen, dass sowohl die Ukraine als auch Russland bedeutende Produzenten landwirtschaftlicher Rohstoffe sind. Zu nennen sei hier im Besonderen die Ammoniakproduktion.
Wie schätzen Sie die aktuelle Marktlage ein?
Tentori: Die Märkte sind derzeit in sehr guter Stimmung, dank sehr lockeren Geld- und Finanzmarktbedingungen in den USA. Die Credit Spreads sind im historischen Vergleich eng und Aktien befinden sich auf Höchstständen. Außerdem besteht weiterhin eine hohe Liquidität im Finanzsystem, das stark von expansiver Fiskalpolitik profitiert. Das betrifft natürlich auch die Emerging Markets, zumal die „allgemeine“ Volatilität beschränkt ist. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren sehen die erwarteten Renditen pro Risikoeinheit immer noch gut aus.
„Wenn wir EM-Anleihen ausschließlich durch die Lupe der Bewertungen betrachten, erscheinen sie zunächst sehr teuer“
Auf welche Faktoren müssen Investoren bei der Auswahl von Aktien und Anleihen achten?
Tentori: Wenn wir EM-Anleihen ausschließlich durch die Lupe der Bewertungen betrachten, erscheinen sie zunächst sehr teuer. Der Spread des Emerging Markets Bond Index liegt nicht weit von seinem Tiefststand der letzten 15 Jahre entfernt. Anders sieht es bei Aktien aus, da das Kurs-Gewinn-Verhältnis des MSCI EM-Index sich innerhalb einer engen Spanne von 10 bis 15 bewegt – ausgenommen von der Corona-Periode. Daher sind besonders im Anleihesegment andere Faktoren relevant. Ich beziehe mich hier auf das „Income“ sowie auf makroökonomische und geopolitische Faktoren.
China war lange Zeit ein Liebling der Investoren. Doch in der Volksrepublik ist die wirtschaftliche Lage schwierig, zudem schwingt das Risiko eines Konflikts mit Taiwan mit. Wie sollten Investoren reagieren?
Tentori: Ich bin der Ansicht, dass man strukturelle und zyklische Argumente voneinander trennen sollte. Die ersten Faktoren sind bekannt, insbesondere der negative demografische Trend und die damit verbundene wirtschaftspolitische Komplexität. Hier sind langfristige Strukturreformen notwendig und die können in dem gigantischen Ausmaß nur durch eine klare politische Agenda kommen. Anders sieht es jedoch bei der Frage der zyklischen Stabilisierung aus. Hier spielen primär geldpolitische Instrumente, also die Liquidität, eine entscheidende Rolle, auch wenn sie mit einer ausgeprägt prozyklischen Fiskalpolitik verknüpft sind. Kürzlich hat die chinesische Regierung zudem die Finanzmärkte thematisiert, was bei ausländischen Investoren sehr positiv aufgenommen wurde.
Gibt es Alternativen, oder kommt man um China nicht herum?
Tentori: China ist zusammen mit den USA die größte Volkswirtschaft der Welt. Schon in naher Zukunft wird China auch auf den Finanzmärkten – das heißt in Bezug auf Währungen, Aktien und Anleihen – eine bedeutende internationale Rolle einnehmen.
Länder wie Indien sind längst kein Geheimtipp mehr. Welche Regionen könnten in den kommenden Jahren besonders spannend sein?
Tentori: Ich fokussiere mich hier weniger auf Regionen, sondern auf die aktuell dominierende Technologie. Der Markt hat in den letzten zwei Jahren stark auf KI gesetzt. Die EM-Länder und Unternehmen, die sich an diesen Trend angepasst haben, dürften auch in den kommenden Monaten und Jahren profitieren.
Was wird im kommenden Jahr wichtig werden?
Tentori: Dem Thema der wachsenden Schulden wird nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Dennoch wird deutlich, dass sich Investoren zunehmend mit der langfristigen Tragfähigkeit der Staatsverschuldung auseinandersetzen. Frankreich und die USA werden langsam zu Sorgenkindern. In dieser Hinsicht schneiden die EM-Länder besser ab, da der durchschnittliche Schuldenstand im Verhältnis zum BIP deutlich niedriger ist als im Bereich der sogenannten fortgeschrittenen Volkswirtschaften.
Über den Interviewten
Alessandro Tentori ist seit 2017 Investmentchef (CIO) bei Axa IM in Mailand. Davor arbeitete er bei Macrogeo, als Leiter Fremdwährungskurse (