Der europäische Immobiliensektor könnte an einem Scheideweg stehen. Im Jahr 2023 haben die steigenden Zinssätze einen Sektor, der stark fremdfinanziert ist, schwer belastet. Dies hat die Refinanzierungsrisiken erhöht und die Bewertungen belastet. Jüngste Entwicklungen wie die Lockerung der Geldpolitik und strukturelle Entwicklungen, die durch den demografischen Wandel und die Energiewende bedingt sind, lassen jedoch auf eine mögliche Erholung schließen. Die Schlüsselfrage ist: Wo könnten die Chancen liegen?
Bessere Finanzierungsbedingungen
Der Immobiliensektor ist in hohem Maße von Fremdfinanzierung abhängig, mit Schuldenniveaus, die bei europäischen Unternehmen nach Candriam-Berechnungen in der Regel das Zehnfache des Ebitda betragen, verglichen mit einem maximalen Verhältnis von 2 bis 3 bei Emittenten mit Investment-Grade-Unternehmensanleihen. In der Vergangenheit hat sich der Sektor in einem Niedrigzinsumfeld gut entwickelt, indem er günstige Kredite zur Finanzierung von Übernahmen und Erschließungen nutzte. Die aggressiven Zinserhöhungen seit Mitte 2022 haben jedoch die Rahmenbedingungen verändert, was zu erheblichen Kursverlusten führte – der MSCI Europe Real Estate Index fiel laut Bloomberg-Berechnungen zwischen dem 31. Dezember 2021 und dem 28. November 2024 um 28 Prozent.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat Mitte 2024 begonnen, die Geldpolitik zu lockern, und weitere Zinssenkungen dürften die Zinsen bis Ende 2025 in die Nähe von 2 Prozent bringen, so unsere Prognosen. Diese Verlagerung führt bereits zu einer Verbesserung der Finanzierungsbedingungen, erleichtert die Refinanzierung und verringert die Creditspreads. Die Spreads von Immobilienanleihen scheinen ihre Normalisierung im Jahr 2024 abgeschlossen zu haben, nachdem sie Ende 2022 mit etwa 420 Basispunkten (Bp) ihren Höchststand erreicht hatten – ein Spread von über 200 Bp im Vergleich zum durchschnittlichen Unternehmensspread (historisch gesehen laut Bloomberg und Candriam etwa 20 bis 30 Bp). Nach einem Übergangsjahr kehren viele Immobilienunternehmen an die Kapitalmärkte zurück und signalisieren damit neues Vertrauen.
Auch wenn die unmittelbaren Auswirkungen der strafferen Geldpolitik bestehen bleiben, sind die langfristigen Aussichten besser. Es wird erwartet, dass niedrigere Zinssätze die Immobilienwerte stützen, die Beleihungsquoten erhöhen und die Investitionstätigkeit beleben werden. Die Auswahl der Emittenten ist jedoch nach wie vor von entscheidender Bedeutung, da sich der Debt Market in den verschiedenen Teilsektoren ungleichmäßig stabilisiert.
Wohnraumerschwinglichkeit und demografische Herausforderungen
Der Zugang zu Wohnraum ist nach wie vor weltweit ein drängendes Problem. In der EU sind die Durchschnittsmieten zwischen 2010 und 2023 um fast 23 Prozent und die Immobilienpreise um 48 Prozent gestiegen. Unternehmen, die in den Bereichen Wohnimmobilien, Studenten- und Seniorenwohnungen tätig sind, können von der Angebotsknappheit und der demografischen Entwicklung profitieren, insbesondere wenn die Politik eine Ausweitung des Angebots statt einer Regulierung der Mietpreise vorzieht.
Außerdem verändern Urbanisierung und eine alternde Bevölkerung die Wohnraumnachfrage. Großstädte wie London, Paris und Berlin ziehen nach wie vor junge Berufstätige und Studenten an, während Seniorenwohnungen aufgrund der alternden europäischen Bevölkerung zu einem immer wichtigeren Segment werden.
Während der designierte US-Präsident Donald Trump versprochen hat, der Deregulierung und der Förderung des Wohnungsbaus Vorrang einzuräumen, um das Wohnungsangebot in den USA zu erhöhen, geht Europa einen anderen Weg und konzentriert sich auf Energieeffizienz und bezahlbare Wohnlösungen. Zum ersten Mal hat die EU-Kommission einen Wohnungsbeauftragten ernannt, der sich mit Themen wie Energieeffizienz, Investitionen und Bauvorhaben befassen soll.
Neben regulatorischen Maßnahmen verdeutlichen Steuerdebatten, wie die jüngste Diskussion um das spanische Real Estate Investment Trust (REIT)-Regime[1], die Herausforderungen, denen Regierungen gegenüberstehen, wenn sie erschwinglichen Wohnraum fördern und gleichzeitig fiskalische Zwänge in Einklang bringen wollen. Diese Risiken könnten wieder auftauchen, wenn Länder ihre wachsenden Defizite finanzieren müssen. Zu den am meisten gefährdeten Sektoren gehören die Bauträger. Vorläufig bleiben diese Bedenken jedoch spekulativ, da keine konkreten Maßnahmen auf dem Tisch liegen.
[1] Die spanische Linkspartei Sumar schlug zwar vor, die Steuervorteile der SOCIMI-Regelung (spanische REITs) abzuschaffen, doch wurde dieser Vorschlag im November 2024 vom Parlament abgelehnt.
Energieeffizienz und das Gebot der Nachhaltigkeit
Weltweit entfallen 30 Prozent des Endenergieverbrauchs und 26 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen auf Gebäude, die zudem erheblich zur Ressourcenverknappung, Wasserverbrauch, Abfallerzeugung und zum Verlust der biologischen Vielfalt beitragen, wie die Internationale Energieagentur unterstreicht.
Als Reaktion darauf haben sich viele Regierungen und Unternehmen Kohlenstoffneutralitätsziele gesetzt, um die Abhängigkeit der gebauten Umwelt von fossilen Brennstoffen zu verringern. So wird Frankreich ab Januar 2025 neue Vorschriften für Bauvorgaben einführen[2], während nationale Bewertungen von Energieausweisen (EPC)[3] Renovierungsprojekte für ineffiziente Gebäude vorantreiben. In ganz Europa werden schrittweise Mindestenergiekriterien für neue und gemietete Gebäude zur Norm.
Im börsennotierten Immobiliensektor sind bereits Fortschritte bei der Verringerung der Energieintensität in den Bereichen Scope 1 und 2 zu beobachten[4], da Unternehmen die wirtschaftlichen und ökologischen Vorteile nachhaltiger Gebäude zunehmend erkennen. So verlangen beispielsweise Büronutzer zunehmend nach grün-zertifizierten Objekten, während Logistikunternehmen Dachflächen zur Installation von Solaranlagen an Energieanbieter vermieten und monetarisieren. Trotz dieser Fortschritte ist die Offenlegung von Scope 3 nach wie vor uneinheitlich und nicht ausreichend granular, um die tatsächliche Energieintensität von Portfolios genau zu bewerten.
Bei sinkenden Zinssätzen erwarten wir eine Zunahme von Projekten zur Umweltsanierung, insbesondere im Wohnungssektor, wo das hohe Zinsniveau zuvor die Investitionsausgaben (CAPEX) gebremst hatte.
Gewinner und Verlierer
In den letzten Jahren waren die Investitionen in europäische Immobilien begrenzt, was zu einem Angebotsdefizit im Verhältnis zur prognostizierten Nachfrage und einem starken Mietwachstum führte. Während die meisten Unternehmen mit einem Abschlag zum Nettoinventarwert gehandelt werden, steht die Zurückhaltung der Aktienanleger im Gegensatz zum wachsenden Interesse privater Akteure. Je nach Teilsektor ergibt sich jedoch ein unterschiedliches Bild.
- Wohn- und Studentenwohnheime: In europäischen Großstädten wie London und in Deutschland besteht ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, und die Leerstandsquoten sind auf einem historischen Tiefstand. So wird beispielsweise erwartet, dass die Nachfrage nach Mietwohnungen in Großbritannien bis 2031 um 20 Prozent steigen wird, was zu einem über der Inflation liegenden Mietwachstum führt[5].
- Seniorenwohnungen: Nach der Covid-19-Krise und dem Orpea-Skandal in Frankreich sahen sich die Seniorenwohnungen mit zunehmenden Leerständen und Konkursen konfrontiert. Doch mit der alternden Bevölkerung Europas und der Rückkehr des Vertrauens sinken Leerstände, Margen erholen sich und Mieten werden steigen, was neue Investitionen ermöglicht.
- Büros: Während die Bedrohung durch vollständiges Remote-Arbeiten abnimmt, bleiben erstklassige Büroobjekte, die hohen Umweltstandards entsprechen, weiterhin gefragt. Die Leerstandsquote für erstklassige Büroimmobilien in der Stadt liegt mit 3,9 Prozent auf einem Zehnjarestief[6]. Ältere Objekte erfordern jedoch erhebliche Investitionen, sodass in diesem Teilsektor Vorsicht geboten ist. Die neuen flexiblen Arbeitsgewohnheiten erhöhen auch die Bedeutung eines gut angebundenen Standorts.
- Einkaufszentren: Trotz einer Verlangsamung nach Covid setzt der wachsende E-Commerce die Einkaufszentren weiterhin unter Druck. Die Eigentümer wirken diesem Trend entgegen, indem sie attraktive Zentren schaffen und Ankermieter anziehen.
- Logistik: Kurzfristig sind Logistikanlagen durch die weltweiten Handelsspannungen und die Konjunkturabschwächung unter Druck geraten, bleiben aber aufgrund des Trends zum Reshoring und des Bedarfs an höheren Lagerbeständen widerstandsfähig. Der Leerstand ist gering, und es wird erwartet, dass die Marktmieten im Einklang mit der Inflation steigen werden, unterstützt durch eine robuste Transaktionstätigkeit.
Gleichgewicht zwischen Anleihen und Aktien in einem sich verändernden Markt
Insgesamt bleiben wir für den europäischen Immobiliensektor positiv gestimmt und sehen Potenzial für Aktien in Nischen mit begrenztem Angebot wie Wohnimmobilien, Studentenwohnungen, Seniorenwohnungen und Logistik. Am Anleihemarkt bleiben wir bei unserer neutralen Haltung gegenüber europäischen Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating, die einen Großteil ihrer Underperformance aus dem Jahr 2024 wieder wettgemacht haben, was eine weitere Spread-Einengung begrenzt. Grüne Anleihen zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie ökologische Herausforderungen angehen und gleichzeitig das Engagement des Sektors für Nachhaltigkeit unterstreichen, wobei die führenden Akteure vollständig auf grüne Finanzierung umstellen. Politische Risiken – wie der Druck auf die öffentlichen Finanzen in hochdefizitären Ländern und die Zunahme des Populismus, der das Vertrauen der Investoren untergräbt – erhöhen die Unsicherheit der Aussichten und behindern mutige Klimaschutzinitiativen. In einem derart unsicheren Umfeld sollte die Selektivität besonders sorgfältig erfolgen.
Stand der Preise und Berechnungen: 28. November 2024.
[2] In Frankreich gilt ab dem 1. Januar 2025 ein neuer Schwellenwert der RE2020-Gebäuderichtlinie, wonach neue Mehrfamilienhäuser einen maximalen Energieverbrauch von 260 kgCO2eq/qm/Jahr erreichen müssen.
[3] Energieausweise sind ein Bewertungssystem, das die Energieeffizienz von Gebäuden zusammenfasst. Das Gebäude erhält eine Bewertung zwischen A (sehr effizient) und G (ineffizient).
[4] Scope 1 umfasst direkte Treibhausgasemissionen aus Einrichtungen oder Fahrzeugen, die direkt von der Organisation kontrolliert werden. Scope 2 umfasst indirekte Emissionen aus der Produktion von eingekauftem Strom, Wärme oder Dampf, die von der Organisation genutzt werden. Scope 3 umfasst andere indirekte Emissionen, wie die aus der Beschaffung, die oft mehr als 60 % der gesamten Treibhausgasemissionen eines Unternehmens ausmachen. Scope 3 für den Immobiliensektor umfasst verkörperte Emissionen aus Baumaterialien sowie "In-Use"-Emissionen aus Heizung, Lüftung und Klimaanlagen.
[5] Quelle: Grainger FY 24 Telefonkonferenz
[6] Quellen: CoStar, JP Morgan per 20/11/2024