Hannes Leitgeb und Alexander Raviol im Gespräch „Die Anwendbarkeit von Mathematik steht nicht in Zweifel“

Hannes Leitgeb ist ein österreichischer Mathematiker und Philosoph. Er ist Professor für Philosophie an der LMU München

Hannes Leitgeb ist ein österreichischer Mathematiker und Philosoph. Er ist Professor für Philosophie an der LMU München Foto: Markus Kirchgessner

Die globale Finanzkrise hat viele grundlegende Fragen aufgeworfen, die Investoren seither  bewegen. Darunter: Sind mathematische Methoden in den Finanz- und Wirtschaftswissenschaften überhaupt sinnvoll einsetzbar, wo doch die vielen komplexen mathematischen Modelle nicht vor den Anlegerund Systemrisiken der Krise gewarnt haben?

Hannes Leitgeb:
Ich forsche zwar allgemein zu den Grundlagen der Mathematik und ihren Anwendungen, nicht speziell zur Mathematik der Ökonomie. Aber: Ich war schockiert, dass die Anwendbarkeit der Mathematik in den Wirtschaftswissenschaften überhaupt angezweifelt wurde. Für mich gehört die prinzipielle Mathematisierung zum letztlichen Ziel der Wissenschaftlichkeit. Auch für die Wirtschaftswissenschaften habe ich da keine Zweifel.

Alexander Raviol: Ich bin eher skeptisch. Vielleicht nicht prinzipiell, aber in der Praxis. Da müssen wir reflektieren, was wir tun. Der Einsatz mathematischer Methoden kann auch eine Scheinwirklichkeit und Scheinsicherheit schaffen, sodass es teilweise sogar weniger gefährlich wäre, wenn man auf sie verzichtete.

Leitgeb: Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Mich wundert sogar oft der Optimismus in Bezug auf die Aussagekraft mathematischer Modelle. Im Unterschied zum Beispiel zur „Paradewissenschaft“ Physik scheint mir die Anwendbarkeit der Mathematik in den Wirtschaftswissenschaften auf zusätzliche Schwierigkeiten zu stoßen. Die erste ist, dass der Anwendungsbereich unglaublich komplex ist. Beschreibe ich in der Physik zum Beispiel ein Planetensystem, so handelt es sich um ein geschlossenes System ohne Energieaustausch nach außen. Ein Markt ist aber ein offenes System mit sehr viel Austausch und damit viel komplexer.

Könnte man sich in der Ökonomie an anderen Wissenschaften orientieren und was bedeutet das?

Leitgeb:
Mir scheint es viele Ähnlichkeiten mit den Lebenswissenschaften, zum Beispiel der Biologie, zu geben: Die Evolutionstheorie hat auch große Probleme, Einzelereignisse vorherzusagen, sie kann nicht prognostizieren, welche neue Art sich entwickeln wird. Sie ist aber recht erfolgreich in der Erklärung von Langzeitentwicklungen. Niemand würde aus der Schwierigkeit, kurzfristige Prognosen zu treffen, schließen, dass prinzipiell mathematische Methoden in der Evolutionstheorie keinen Platz hätten oder die Evolutionstheorie im Argen läge. Auch in der Ökonomie geht es nicht um Einzelpersonen, sondern vielmehr um soziale Phänomene, den Markt also. Auf dieser Ebene fallen Beschreibungen dann doch schon leichter.

Raviol: Tatsache ist aber, dass selbst das nicht die Ergebnisse liefert, wie sie viele erwarten. Die Modelle werden immer komplizierter, sie funktionieren aber nicht. Selbst die US-Notenbankchefin Janet Yellen hat zuletzt eingeräumt, dass die Modelle, mit denen die Notenbanker arbeiten, immer wieder verworfen werden.

Leitgeb: Der Anspruch ist sicherlich zu hoch. Andere Wissenschaftler, selbst Physiker, werden übrigens auch nicht von Politikern angerufen und gefragt, was zu tun ist.

Gibt es neben der Komplexität weitere Gründe, die Anwendung von Mathematik in der Ökonomie nicht nach dem Muster der Physik zu denken?

Raviol:
Die Physik beruht darauf, dass Experimente durchgeführt werden können. So kommt man zu Theorien, die sich wiederum in Experimenten bestätigen müssen. Beim Aufstellen dieser Theorien ist die Mathematik ein wesentliches und unglaublich mächtiges Hilfsmittel. Diese Vorgehensweise ist in der Ökonomie grundsätzlich nicht möglich. Darüber hinaus verändern Menschen ihre Präferenzen und ihr Verhalten ständig und oft auch gravierend. Dem Einsatz mathematischer Modelle sind daher enge Grenzen gesetzt.

Leitgeb: Physiker waren enorm erfolgreich darin, alles messbar zu machen. Sie können in nahezu allen Fragestellungen numerisch basiert arbeiten. Das ist vermutlich im finanzwirtschaftlichen Bereich nicht möglich. Vielmehr muss man qualitative mit quantitativen Informationen in Einklang bringen und das ist ungleich schwieriger. Dies ist ein Thema, an dem ich aktuell forsche – auf einer ganz allgemeinen Ebene.

Was macht die Schwierigkeit aus, wenn qualitative mit quantitativen Informationen zusammentreffen?

Leitgeb:
Hier stehen zwei Modelle einander gegenüber, Überzeugungen zu modellieren. Das eine ist die Alles-oder-Nichts-Variante. So kann ich Sie fragen, wie das Wetter morgen wird. Sie können sagen „gut“ oder „schlecht“, numerische Parameter sind nicht involviert. Ich kann Sie aber auch fragen, für wie wahrscheinlich Sie es halten, dass das Wetter morgen schön ist – auf einer Skala zwischen 0 und 1. Das ist die numerische oder probabilistische Beschreibung von Überzeugungen.

Was heißt das für die Ökonomie?

Leitgeb:
Ich würde die Hypothese aufstellen, dass in allen wissenschaftlichen Bereichen, in denen man qualitative und quantitative Informationen unreflektiert zusammenbringt, es sehr leicht möglich ist, zu einem Ergebnis zu kommen, das auf keinen Fall richtig sein kann. Mindestens ist Vorsicht geboten, denn meine Forschungsergebnisse besagen: Wenn ich probabilistische Daten habe und diese mit qualitativen mische, ist das, was herauskommt, sehr sensibel in Bezug auf die Parameter, die ich in das Modell stecke.