FvS-Denkfabrikleiter Thomas Mayer „Die Auslegung des EZB-Mandats ist problematisch – ökonomisch und rechtlich“

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Ein steigendes Preisniveau ist nicht Preisstabilität

Die EZB hat das ihr gegebene Mandat zur Wahrung der Preisstabilität mit einen Anstieg des harmonisierten Konsumentenpreisindex für die Eurozone von unter, aber nahe an 2 Prozent auf mittlere Sicht gleichgesetzt. Im vorigen Abschnitt haben wir festgestellt, dass der Konsumentenpreisindex als Zielvariable für Preisstabilität unzulänglich ist. Nun gehen wir der Frage nach, warum das Preisniveau bei Preisstabilität steigen soll.

Üblicherweise wird die Notwendigkeit insgesamt steigender Preise mit der Starrheit von Preisen nach unten begründet. Relative Preisänderungen, die Änderungen der Nachfrage widerspiegeln, können dann nur stattfinden, wenn Preise steigen. Wie jedermann leicht sehen kann, sind aber die wenigsten Preise nach unten starr. Für die meisten Güter bewegen sich die Preise sowohl nach oben als auch nach unten.

Sehr ausgeprägt ist die Starrheit von Preisen vor allem auf dem Arbeitsmarkt, wo Löhne von Tarifkartellen bestimmt werden. Doch ist die Existenz von Kartellen, die Preisanpassungen nach unten verhindern, kein Grund, Preisstabilität mit insgesamt steigenden Preisen gleichzusetzen. Stattdessen müssten die Kartelle aufgebrochen werden.

Tatsächlich dürfte auch ein anderer Grund für die Abneigung der Zentralbank gegen Preisstabilität im wörtlichen Sinne verantwortlich sein. In unserem Kreditgeldsystem wird Giralgeld durch Bankkredite geschaffen. Giralgeld ist also eine Schuldverschreibung der Banken gegenüber den Inhabern von Konten, die durch Kredite an andere Schuldner gedeckt sind. Je mehr Kredite ausgereicht werden, desto höher sind die Geldmenge und die aus der Geldschöpfung entstehenden Gewinne („Seigniorage“), aber auch die ausstehenden Schulden. Ein Anstieg des Preisniveaus verringert die reale Schuldenlast, erhöht die Schuldentragfähigkeit und schafft Raum für mehr Kredite, die die Geldmenge und die Gewinne aus der Geldschöpfung erhöhen.

Die aus der Geldschöpfung entstehenden Gewinne der Zentralbank und Banken sind ein guter Grund dafür, dass die Zentralbank maßvolle Inflation wirklicher Preisstabilität vorzieht. Höhere Inflation würde zwar höhere Gewinne bringen, aber wäre wohl nicht mehr als Preisstabilität an das Publikum zu verkaufen. Bei einer Inflation von 2 Prozent im Jahr, welche die EZB mit Preisstabilität gleichsetzt, sinkt die Kaufkraft des Geldes in zwei Jahrzehnten um rund ein Drittel, ohne dass das Publikum dagegen aufbegehrt.

Die EZB kann Inflation nicht erzwingen

Die Zentralbank steuert die Geldschöpfung auf höchst indirekte Weise, indem sie die Kreditnachfrage über die Setzung des Geldmarktzinses zu beeinflussen sucht. Dabei sind die Wirkungen sowohl der Geldmarkzinsen auf die Kreditnachfrage als auch der Geldmenge auf die Inflation höchst unsicher.

Im Geldmarkt gleichen Banken Überschüsse und Defizite in ihren Einlagen (und anderen Finanzierungsinstrumenten) untereinander aus, die nach der Kreditvergabe entstanden sind. Dabei agiert die Zentralbank als Kreditgeber und Nehmer von Einlagen der letzten Instanz und vergibt Zentralbankkredite zur Reservehaltung. Über diese Geschäfte bestimmt sie den Geldmarktzins.

Da der längerfristige Kreditzins einer Abfolge kurzfristiger Geldmarktzinsen entspricht, ergibt sich dieser aus den Erwartungen künftiger Geldmarktzinsen. Diese Erwartungen werden von der Zentralbank beeinflusst, indem sie die Marktteilnehmer bei der Abschätzung ihrer Geldpolitik in Reaktion auf die Entwicklung der Wirtschaft anleitet. Unter besonderen Umständen manipuliert die Zentralbank den Kreditzins direkt, indem sie sich zum Beispiel zu einem Pfad künftiger Geldmarktzinsen verpflichtet („forward guidance“) oder direkt am Kreditmarkt interveniert („quantitative easing“).

Erfahrungsgemäß kann eine entschlossene Zentralbank eine überschäumende Kreditgewährung und daraus folgende Geldschöpfung immer abwürgen, indem sie so lange Erwartungen steigender Kreditzinsen schürt, bis die Kreditnachfrage einbricht. Dagegen ist der Anschub einer schwachen Kreditgewährung und Geldschöpfung nicht immer möglich.

Sind andere Gründe als die Höhe des Zinses für die Schwäche der Kreditnachfrage verantwortlich oder sind die Banken nicht in der Lage, Kredit anzubieten, und schafft der Kapitalmarkt dafür keinen Ausgleich, dann ist die Zentralbank weitgehend machtlos. Senkungen der Geldmarktzinsen und selbst Interventionen am Kreditmarkt können verpuffen, ohne die Kreditvergabe in Schwung gebracht zu haben. Es ist zu befürchten, dass dies bei den jüngsten geldpolitischen Maßnahmen der EZB, insbesondere dem Programm zum Kauf von Staatsanleihen, der Fall ist.

Aber auch wenn es der Zentralbank gelingt, die Kreditvergabe und Geldschöpfung zu beeinflussen, ist die Wirkung auf die Inflation keineswegs sicher. Veränderungen der Geldnachfrage und Verzögerungen bei der Wirkung geldpolitischer Maßnahmen können die Wirkungen von Geldmengenänderungen auf die Inflation bis zur Unsichtbarkeit der Zusammenhänge verzögern. Aus diesen Gründen erscheint der Anspruch der Zentralbanken, die Konsumentenpreisinflation zielgenau zu steuern, überzogen, auch wenn das Ziel für die mittlere Frist formuliert ist.