Fiskalpolitik am Wendepunkt Der drastische Kurswechsel der Bundesregierung

Neville Hill ist Chefvolkswirt Europa bei der Schweizer Großbank Credit Suisse

Neville Hill ist Chefvolkswirt Europa bei der Schweizer Großbank Credit Suisse

Schwarze Null, ausgeglichener Bundeshaushalt, Schuldenbremse – all dies sind Synonyme für den fiskalpolitischen Ansatz Deutschlands der letzten Jahre. Indessen hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten einen drastischen Kurswechsel vollzogen: Um die Wirtschaft im Lockdown zu unterstützen, hat sie schnell reagiert und eine Vielzahl finanzpolitischer Maßnahmen auf den Weg gebracht.

In einem ersten Schritt setzte die Regierung ein Nothilfepaket um, das in erster Linie darauf abzielte, Unternehmen die erforderliche Liquidität bereitzustellen, damit diese den Lockdown überstehen können. Mittels Cash-Unterstützungsleistungen und Kreditgarantien in Höhe von rund 22 beziehungsweise 38 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) versuchte sie, Liquiditätsengpässe zu verhindern.

Um den Arbeitsmarkt zu stützen, lockerte sie die Bedingungen, um Kurzarbeit beantragen zu können. Dieses Programm hatte sich während der Finanzkrise als höchst wirksam erwiesen, um Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden, und es scheint auch in der aktuellen Krise als robuster Puffer zu agieren. Unter dem Strich dürfte sich dieses erste Konjunkturpaket (ohne Kreditgarantien) auf rund 3,6 Prozent des BIP von 2019 belaufen haben.

Fokus auf das Danach

Mit dem Beginn der zweiten Phase dieser Krise verschiebt sich der Fokus nun auf die Konjunkturerholung. In diesem Sinne hat die deutsche Regierung weitere substanzielle Maßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur im Umfang von rund 3,6 Prozent des BIP von 2019 beschlossen, die 2020 und 2021 umgesetzt werden sollen.

Diese Maßnahmen sollen Haushalten und Unternehmen Unterstützung bieten und damit letztlich zusätzliche Konsumausgaben anregen. Gleichzeitig ist das Paket auch darauf ausgelegt, finanzielle Engpässe bei lokalen Regierungen und Gemeinden zu lindern. Weil die Covid-19-Beschränkungen in Deutschland gegen Ende Mai auf breiterer Front gelockert wurden, rechnen wir künftig mit einer Erholung der wirtschaftlichen Aktivität. Das jüngste Konjunkturpaket dürfte entscheidend dazu beitragen, einen schnellen Aufschwung zu gewährleisten.

Die aktuelle Veränderung der fiskalpolitischen Ausrichtung Deutschlands könnte sich längerfristig auf die dortige haushaltspolitische Grundhaltung auswirken. Die zunehmende Beliebtheit der Grünen sowie die breite Zustimmung für einen stärkeren Fokus auf ökologische Themen könnten nachhaltigeren Druck erzeugen, die Fiskalpolitik stärker für die Lösung derartiger Probleme einzusetzen.

Derweil scheint die Krise auch auf europäischer Ebene eine neue Denkweise anzustoßen. Nach einer gewissen anfänglichen Skepsis hat Deutschland die französische Initiative für einen Europäischen Wiederaufbaufonds letztlich doch unterstützt. Letzterer wird angeschlagene Volkswirtschaften statt nur mit Krediten auch mit nicht rückzahlbaren Zuschüssen unterstützen. Dies bedeutet, dass Deutschland und der Euro-Raum möglicherweise mit einem ausgeglicheneren Mix zwischen finanz- und geldpolitischen Stimuli als in den letzten Jahren aus dieser Krise hervorgehen werden.

Stimulus am Horizont

Die deutsche Regierung hat ein weiteres Konjunkturpaket in Höhe von 130 Milliarden Euro (rund 3,6 Prozent des BIP) beschlossen, wovon 120 Milliarden Euro auf den Bund entfallen. Da die meisten Maßnahmen über die Jahre 2020 und 2021 verteilt sind, werden ihre entsprechenden Auswirkungen davon abhängen, wie schnell die Hilfsmittel mobilisiert und eingesetzt werden. Gemäß einer groben Schätzung sollten sich die zusätzlichen fiskalischen Impulse jedoch auf rund 2,3 Prozent des BIP im Jahr 2020 und 1,2 Prozent des BIP im Jahr 2021 belaufen.

Wir schätzen weiter, dass die Ausgaben im Zusammenhang mit diesem Konjunkturpaket 2020 rund 100 Milliarden Euro betragen werden. Dabei wird eine am Umsatzeinbruch gemessene Überbrückungshilfe für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) im Umfang von 25 Milliarden Euro (entspricht 0,7 Prozent des BIP) mit Mitteln finanziert werden, die noch aus dem früheren Haushaltsbudget verfügbar sind. Laut Finanzminister Olaf Scholz sind aus dem ersten revidierten Budget noch insgesamt 65 Milliarden Euro übrig.