Kommentare zum EZB-Zinsentscheid „Asche auf unser Haupt … das hatten wir nicht erwartet!“

Holger Fahrinkrug

Holger Fahrinkrug

Holger Fahrinkrug, Chefvolkswirt Meriten Investment Management:

Asche auf unser Haupt… das hatten wir nicht erwartet! Die Märkte hatten im Vorfeld der heutigen Ratssitzung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine Zinssenkung der EZB in diesem Jahr eingepreist. Dass sie schon heute kam, hat aber überrascht, wie die Reaktion von Aktien- und Devisenmarkt zeigt.

Der Schritt bringt den Leitzins der Eurozone auf ein neues Rekordtief von 0,25 Prozent und hat unmittelbare, aber auch mittelbare Konsequenzen, die Marktteilnehmer in den kommenden Wochen verarbeiten müssen. Hier sind unsere ersten, wahrscheinlich aber nicht letzten Gedanken dazu.

Zinssenkung eigentlich erst für Dezember erwartet

Dass die EZB bereits heute den Leitzins auf das neue Rekordtief von 0,25 Prozent gesenkt hat, lässt viele Schlüsse unterschiedlicher Qualität und Bedeutung zu. Marktteilnehmer und Medien, hatten in den letzten Tagen verstärkt über eine Zinssenkung spekuliert, sie allerdings überwiegend erst für Dezember erwartet.

Etliche Kommentatoren, vor allem aus Deutschland, haben den Schritt bereits kritisiert. Und in der Tat sehen auch wir Argumente, die ihn möglicherweise ex post als „policy error“, als geldpolitischen Fehler, erscheinen lassen könnten, zumindest aus deutscher Perspektive.

EZB immer finanzmarktnäher

Eines ist sicher: die EZB wird unter Mario Draghi zunehmend „undeutsch“ in dem Sinne, dass Art und Begründung ihrer Entscheidungen immer finanzmarktnäher werden, und die öffentliche Meinungsbildung bezüglich makroökonomischer Trends stärker reflektieren als dies zu Zeiten der Bundesbank, aber auch der EZB-Präsidenten Wim Duisenberg und Jean-Claude Trichet, sowie eines EZB-Chefvolkswirts Otmar Issing war.

Das muss nichts Schlechtes sein; die Zeiten ändern sich eben. Und selten haben sie sich so dramatisch geändert wie im Laufe der immer noch präsenten Krise. Die EZB folgt auf jeden Fall den Beispielen der Federal Reserve in den USA und der Bank of England. Diese Verhaltensänderung ist eine Konsequenz der Krise, die die Effektivität der (traditionellen) Geldpolitik reduziert hat und drastischere schnellere Entscheidungen erfordert, die nicht über den Bankensektor, sondern mehr über die Finanzmärkte wirken. Es ist klar, dass auch wir uns in der Analyse und Prognose der EZB-Handlungen weiterentwickeln müssen.

EZB hat Angst vor deflationärer Entwicklung

„Undeutsch“ ist vor allem, dass die EZB, auch wenn Mario Draghi dies nicht so ausdrückt, offensichtlich wirklich Angst vor sich selbst verstärkenden deflationären Entwicklungen in der Eurozone hat. Die Symmetrie ist eine andere in Deutschland, das im Ausland oft als Hort einer Inflations-Paranoia gesehen wird, und wo Deflationssorgen in der Nachkriegszeit keine Rolle für geldpolitische Entscheidungen gespielt haben.

Welche Schlussfolgerungen können aus den heutigen Entscheidungen für die Zukunft gezogen werden? Was die Zinsseite angeht, hat die EZB den Abwärts-Bias beibehalten. Eine finale Leitzinssenkung auf 0 Prozent ist also theoretisch denkbar; für wahrscheinlich halten wir sie wegen möglicher technischer Schwierigkeiten, u. a. mit einem negativen Einlagensatz, nicht.

Offensichtlich ist aber die Sensibilität der EZB im Bezug auf Konjunktur- und Preisrisiken nach unten so groß, dass weitere Liquiditätsmaßnahmen jederzeit möglich sind, vor allem, wenn die Fragmentierung im Finanzsektor nicht weiter nachlässt, eine Sorge, die in der heutigen Pressekonferenz intensiv diskutiert wurde.

Glaubwürdigkeit der EZB-Guidance dürfte gelitten haben

Da Art und Timing weiterer geldpolitischer Lockerungsmaßnahmen nicht klar sind, ebenso wenig wie der nachhaltige Erfolg der heutigen Maßnahmen, und da die Glaubwürdigkeit der EZB-Guidance durch den heutigen überraschenden Schritt gelitten haben dürfte, dürfte nach der unmittelbaren positiven Reaktion von Aktien- und Rentenmärkten für’s erste „die Luft raus“ sein.

Damit neue EZB-Fantasie aufkommt, müsste sich unseres Erachtens der Abwärtstrend bei den Inflationsraten verstärken oder zumindest fortsetzen, die Konjunktur der Eurozone verschlechtern und/oder neue strukturelle Probleme im Bankensektor auftreten.

Da wir nichts von alledem erwarten, und da Banken bereits heute immer weniger Liquiditätsunterstützung nachfragen, gehen wir nicht von weiteren signifikanten Lockerungsschritten der EZB aus.

Allerdings dürften die Zinsen für eine lange Zeit extrem niedrig (für Deutschland: zu niedrig!) bleiben, und die volle Zuteilung von Offenmarktgeschäften, wie von Mario Draghi heute angekündigt, bis mindestens zum Frühjahr 2015 beibehalten werden.

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