Europa steht wirtschaftlich und geopolitisch unter Druck. Laut Weltbank generiert die EU beispielsweise mit rund 18.400 Milliarden Dollar zwar die zweitgrößte Wirtschaftsleistung weltweit, doch das jährliche Produktivitätswachstum liegt bei lediglich 0,5 Prozent – deutlich weniger als in den USA und langfristig eine echte Gefahr für den Wohlstand in der EU.
Die Europäische Union muss gemäß des Reformplans von Mario Draghi zusätzliche 800 Milliarden Euro pro Jahr investieren, um wenigstens ihren Rang zu halten. Die Investitionen des Brottinlandsprodukts steigen so von 22 auf 27 Prozent. Es ist daher leicht zu verstehen, warum Mario Draghi „Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ als Titel für seinen Bericht gewählt hat. Draghis Diagnose ist deutlich: Europa riskiert, in einen Zustand permanenter Stagnation zu verfallen, wenn man nicht unverzüglich handelt. Die Fragmentierung des Binnenmarkts und überbordende Bürokratie bremsen Innovation und Marktintegration.
Viele Reformbereiche
Um diesen drohenden Stillstand und den daraus folgenden Sozialabbau zu verhindern, nennt Draghi drei Kernbereiche, die die optimieren muss:
- den Innovationsrückstand gegenüber den USA und China insbesondere im Be - reich der Spitzentechnologien aufholen
- schädliche Emissionen verringern und Wettbewerbsfähigkeit steigern
- Sicherheit der Menschen erhöhen und Abhängigkeiten reduzieren
Der Bericht macht deutlich, dass es nicht unbedingt an Innovation in der EU mangelt. Es gibt jedoch viele Hindernisse, die kommerzialisierte Ideen entweder verhindern oder zumindest verzögern. Es ist nicht verwunderlich, dass Draghi die „Beseitigung von Hindernissen, die Harmonisierung von Regeln und Gesetzen und die Koordinierung von Richtlinien“ als Schwerpunkt von Reformaktivitäten ansieht. Der Bericht listet politische Vorschläge für die wichtigsten Sektoren wie Energie, kritische Rohstoffe, neue Technologien und Netzwerke, künstliche Intelligenz, Halbleiter oder saubere Energie auf und skizziert die zu erreichenden Ziele nebst Vorschlägen, wie diese erreicht werden können.
Draghi fordert daher, dass die EU die Kapitalmärkte reformiert. Das sei notwendig, um die enormen finanziellen Mittel für eine Transformation der EU realisieren zu können. Draghi listet fünf Ziele auf, um diesen Prozess in Gang zu setzen:
- Fragmentierung des Binnenmarkts verringern, Hindernisse für Innovation, Unternehmenswachstum und große Infrastrukturprojekte in Europa beseitigen – und dadurch Steigerung der Nachfrage nach Risikokapital und nach höheren Finanzierungsvolumina über die Kapitalmärkte.
- Abhängigkeit von Bankfinanzierungen in Europa verringern. Stattdessen die Kapitalmarktunion schneller entwickeln so - wie die Kapitalströme steigern, die in die Kapitalmärkte fließen. Dafür verstärkt private Pensionspläne für mehr Teilnahme fördern.
- Bankenfinanzierung ausweiten, übermäßig restriktive Regulierung der Verbriefung überwinden und aufsichtsrechtlichen Vorschriften überprüfen, um ein starkes und wettbewerbsfähiges Bankensystem zu schaffen.
- Den EU-Haushalt effektiver nutzen. Dafür die strategischen Prioritäten stärker und konzentrierter finanzieren. Den Verwaltungsaufwand vereinfachen und die Hebelwirkung des EU-Haushalts und der gesamten EU-Finanzarchitektur zur Unterstützung von Investitionen verbessern.
- Einführung einer regelmäßigen und umfangreichen Emission eines gemeinsamen sicheren und liquiden Vermögenswerts durch die EU, um gemeinsame Investitionsprojekte zwischen den Mitgliedsstaaten zu ermöglichen und die Integration der Kapitalmärkte zu unterstützen.
Der Weg zu einer Kapitalmarktunion
Notwendig ist dazu vor allem die Schaffung einer echten Kapitalmarktunion. Grundlage für eine Kapitalmarktunion ist, die vorhandenen Aufsichtsstrukturen anzupassen und zu reformieren. Statt des derzeitigen nationalen Aufsichtsansatzes soll die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (Esma) „von einer Einrichtung, die nationale Regulierungsbehörden koordiniert, zu einer einzigen gemeinsamen Regulierungsbehörde für alle EU-Wertpapiermärkte werden, ähnlich der US-amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde Sec“.
Esma als zukünftige Sec
Die Esma soll nach Draghis Plänen ähnlich dem Sec-Modell ausschließlich (I) große multinationale Emittenten, (II) große regulierte Märkte mit Handelsplattformen in verschiedenen Rechtsordnungen und über (III) zentrale Gegenpartei-Plattformen (CCPs) überwachen. Um die Position der Esma zu stärken und diese ähnlich der EZB möglichst unabhängig von nationalen Interessen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten agieren zu lassen, sollen die derzeitigen, aus den nationalen Aufsichten zusammengesetzten Entscheidungsgremien um weitere sechs unabhängige Fachleute erweitert werden.

Außerdem soll die EU-Gesetzgebung im Bereich der Wertpapiere prinzipienbasiert erfolgen, der Gesetzgeber soll darüber hinaus lediglich die wichtigsten strategischen politischen Entscheidungen vorgeben. Die technische Arbeit – mit anderen Worten das, was heute in den technischen Ausführungsbestimmungen enthalten ist – soll danach zukünftig die Esma erledigen.
Zu diesem Zweck sollen die Befugnisse der Esma ausgeweitet und auch die finanzielle Basis der Esma gestärkt werden, um die neuen Regulierungs- und Aufsichtsaufgaben effizient wahrnehmen zu können.
Eine dreiteilige Aufsichtsstruktur
Draghi war sich in seinem Report über die erheblichen Auswirkungen dieser Transformation der Aufsicht im Klaren. Sein Bericht adressiert bereits potenzielle Widerstände der einzelnen Marktteilnehmer. Er schlägt eine Dreiteilung der Aufsichtskompetenzen vor, um den nationalen Interessen gerecht zu werden.
Große Emittenten sollen danach direkt von der Esma beaufsichtigt werden. Kleinere, rein national tätige Emittenten bleiben der jeweiligen nationalen Aufsicht unterstellt. Mittelfristig soll dann die Aufsicht über die größeren Investmentfondsgesellschaften auch durch die Esma erfolgen. Außerdem sollen ähnlich wie bei der EZB gemeinsame Teams aus Mitgliedern der nationalen Aufsichtsbehörden und der Esma zusammen die Aufsicht ausüben, sodass sowohl ein effizienter Informationsaustausch als auch ein „level playing field“ der einzelnen EU-Mitgliedsländer gewährleistet ist. Das Modell rechts stellt grob die Entwicklung der Aufsichtsstruktur in einem Schaubild dar.
Markt würde sich mittelfristig ändern
Man kann davon ausgehen, dass nicht nur die nationalen Aufsichtsbehörden, die nach den Worten Draghis in Teilen zu „Tochtergesellschaften“ der Esma werden, sondern auch bestehende Marktteilnehmer, die aus der Fragmentierung des Markts derzeit erheblichen Nutzen ziehen, starken Widerstand gegen die Pläne leisten werden. Auch der Markt der Investmentfonds würde durch den einheitlichen Aufsichtsansatz mittelfristig eine große Veränderung erfahren.
Der stärkere Wettbewerb über die nationalen Grenzen hinweg würde langfristig unweigerlich zu durchaus gewollten Konzentrationsprozessen führen. Diese Entwicklung sollte vielen bereits aus der Zeit bekannt sein, als die Europäische Union einen gemeinsamen Wertpapiermarkt schuf. So verfolgte man mit der damaligen Finanzmarktrichtlinie bereits das Ziel, durch mehr Transparenz den Wettbewerb zu erhöhen, was dann auch zu Konzentrationsprozessen im Markt führte.
Kosteneinsparung für große KVGen
Gerade größere Kapitalverwaltungsgesellschaften könnten von Kosteneinsparungen profitieren, wenn die nationale Regulierung wirklich wegfällt. Für sie würden etwa die enormen Kosten verschwinden, die durch nationales „Goldplating“ entstehen. Damit ist gemeint, dass die Kapitalverwaltungsgesellschaften spezielle nationalen Regelungen auf die Produkte anwenden müssen, damit sie die Produkte dann in den verschiedenen Ländern vertreiben können. Dies würde zwangsläufig zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber kleineren Verwaltungsgesellschaften führen.
Als Folge gäbe es weniger Produkte mit größeren Volumina. Unklar ist jedoch, ob mittelfristig mit dieser Maßnahme tatsächlich mehr Kapital in die EU fließen würde beziehungsweise mehr Kapital für die genannten Zwecke zur Verfügung stünde. Denkbar ist jedenfalls, dass Produkte aufgrund größerer Vergleichbarkeit und niedrigerer Kostenquote für den Investor zunächst kostengünstiger werden. Weiterhin mag das Interesse der Investoren an derartigen Investmentprodukten steigen, was dann auch zu mehr Kapital für diese Zwecke führen würde.
Gefahr einer Doppelregulierung
Unklar bleibt zudem, ob dies zu reduzierten bürokratischen Hemmnissen führt. Immerhin ließen sich im Rahmen der Bankenaufsicht schon Erfahrungen sammeln. Diese Erfahrungen zeigen, dass eine weit entfernte Aufsicht, die nur mittelbaren Zugang zu dem beaufsichtigten Subjekt hat, oftmals noch bürokratischer agiert, weil sie die konkreten Notwendigkeiten des jeweiligen Marktumfelds nicht mehr kennt. Vage bleibt der Bericht auch in Bezug auf die notwendige Abschaffung bestehender nationaler Regulierung, die mit der Schaffung einer direkten europäischen Aufsicht einhergehen muss, denn sonst droht im schlimmsten Fall eine vollständige Doppelregulierung, wie wir sie heute in Teilen bereits haben.
Debatte muss noch geführt werden
Ob die Europäische Union den europäischen Kapitalmarkt wirklich hin zu einer echten Kapitalmarktunion umbauen kann, ist derzeit nur schwer zu prognostizieren. Wenn der Weg dorthin aber weiter beschritten werden soll, dürfte die Schaffung einer europäischen „Superaufsicht“ unausweichlich sein.
Die Diskussion um eine zentrale Aufsicht hat bereits Fahrt aufgenommen. Interessanterweise ist die Debatte in Luxemburg und Irland, zwei der wichtigsten Fondsstandorte Europas, bereits in vollem Gange, während sie in Deutschland bislang kaum geführt wird. Die Finanzindustrie hierzulande sollte sich frühzeitig auf die vorbereiten und die möglicherweise veränderten Chancen sowie Risiken genau abwägen.
Über den Autor
Jochen Kindermann ist Partner und Spezialist für Bank- und Kapitalmarktrecht bei der Kanzlei Simmons & Simmons am Standort Frankfurt. Er berät Finanzakteure zu aufsichtsrechtlichen Fragestellungen und insbesondere zu Compliance-Themen.