ESG, Wirtschaft und Co. Matt Christensen von AGI: Sechs Lektionen aus dem Angriffskrieg auf die Ukraine

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Matt Christensen von AGI: Sechs Lektionen aus dem Angriffskrieg auf die Ukraine
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Matt Christensen, Nachhaltigkeitschef von Allianz Global Investors

Matt Christensen, Nachhaltigkeitschef von Allianz Global Investors: „Sehr konkret ist saubere Energie von Nickel abhängig, bei dem Russland der weltweit größte Produzent ist.“ Foto: AGI

1. Erschwingliche, saubere und alternative Energiequellen

Russland ist der zweitgrößte Erdgasproduzent der Welt, verfügt über die weltweit größten Gasreserven und gehört zu den drei größten Rohölproduzenten. Der Konflikt stellte global – vor allem aber in Europa – die Energiesicherheit sowie den Zugang zu erschwinglicher Energie auf die Probe. In wichtigen Ländern wurden Gas und Kernenergie wieder stärker als Energiequellen in Betracht gezogen. Dass es nicht zu Kollateralschäden für die Wirtschaft und das Klima gekommen ist, hat wohl auch mit dem milden Winter zu tun. Zu beobachten war aber auch, dass erneuerbare Energien 2022 erstmals die 300-GW-Marke überschritten haben.

Unsere Lehre Nummer eins ist somit, dass die Argumente für eine robuste Energiearchitektur und eine Energiewende belastbarer denn je sind.

2. Kreislaufwirtschaft

Um die Ambitionen im Bereich nachhaltiger Energie aufrechtzuerhalten, ist ein grundlegendes Umdenken bei der Beschaffung wichtiger strategischer Metalle und Mineralien erforderlich. Russland ist auch ein wichtiger Produzent von Basismetallen. Die Economist Intelligence Unit schätzt, dass Länder, die mehr als 77 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung ausmachen, erhebliche Mengen mindestens eines Basismetalls aus Russland oder der Ukraine importieren. Sehr konkret ist saubere Energie von Nickel abhängig, bei dem Russland der weltweit größte Produzent ist. Die geopolitischen Unsicherheiten haben darüber hinaus den Blick auf Chinas Bedeutung für Mineralien wie Lithium und Seltenen Erden erweitert.

Dies bringt uns zu Lehre Nummer zwei: Die einzige Möglichkeit, den Rohstoffbedarf für saubere Energie in Zukunft nachhaltig zu decken, ist das effiziente Recycling von Elektronikgeräten („Elektroschrott“). 

3. Nachdenken über die Lebensmittelversorgung

Der Krieg in der Ukraine hat zudem die große Bedeutung der russischen und ukrainischen Agrarwirtschaft für die globalen Lebensmittelversorgung vor Augen geführt – was der Lebenshaltungskosten-Krise eine weitere Dimension verliehen hat. Der Konflikt vermittelte einen Eindruck davon, was eine dauerhafte Unterbrechung der globalen Nahrungsmittelversorgungskette bedeuten könnte, etwa ausgelöst durch Klima- oder Biodiversitätsereignisse.

Ohne eine systematische und nachhaltige Umgestaltung des globalen Ökosystems wird sich die Ungleichheit bei der Ernährung verschärfen, wird sich der Beitrag der Ernährung zum Klimawandel nicht verringern und können die bereits angeschlagenen Gesundheitssysteme zusätzlich unter Druck geraten. Dies ist Lektion Nummer drei.

4. Neuer Blick auf Verteidigung

Mit dem Krieg trat auch das Thema „höhere Verteidigungsausgaben“ in den Vordergrund. Unter einen Nachhaltigkeits-Blickwinkel hatten die Finanzmärkte in Bezug auf umstrittene Waffen zuvor einen Konsens erreicht hatte. Nun gingen die Meinungen jedoch auseinander, hinsichtlich der Aufnahme oder des Ausschlusses von Rüstungsfirmen und deren Zulieferer in Fonds mit Nachhaltigkeitslabel.

AGI verfolgt diesbezüglich teilweise einen pragmatischen Ansatz, mitunter unter Einsatz von Schwellenwerten. Unsere eigene Lehre vier ist, dass dieser Ansatz voraussichtlich noch zu verfeinern ist.

5. ESG ist tot – es lebe E, S und G?

Die aus dem Konflikt resultierende Energiekrise machte „Nachhaltigkeit“ sehr schnell zu einem politischen Thema. Langjährige Unterinvestitionen in die globale, vor allem aber europäische Energieinfrastruktur wurde auch ESG-Überlegungen und einer weltfremden Klimaagenda angelastet. Viele derartige Vorwürfe sind sicherlich von einer politischen Agenda getrieben und weisen wenig an Substanz auf. Gleichwohl sind Fragen zur Anwendung von ESG-Kriterien bei Investmententscheidungen legitim. 

 

 

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Bei der ESG-Analyse spielen traditionell qualitative Scoring-Mechanismen eine wichtige Rolle. Unübersehbar ist aber der Bedarf nach einem modernisierten, robusten nicht finanziellen Risikorahmen, der in alle Anlagestrategien einfließen kann. Von einem Risiko-Screening unspezifischer, aggregierter E-, S- und G-Scores wird mehr und mehr zu spezifischen Risiken innerhalb der Bereiche E, S und G überzugehen sein: Bewertung physischer Risiken, sozialer Kontroversen, der Wasserintensität der Produktion oder der Zusammensetzung des Vorstands, um nur einige zu nennen. Dies ist unsere Lehre Nummer fünf.

AGI hat ein System für Nachhaltigkeitsdaten entwickelt, um die gesamte Bandbreite der ESG-Risiko- und Chancenbewertungs-Tools zu erfassen. Dieses System wird mit den sich ändernden Kunden- und Regulierungsanforderungen weiterentwickelt werden.

6. Der Übergang zum Übergang

Die Ereignisse des letzten Jahres haben nicht nur die Widerstandsfähigkeit von ESG-Konzepten auf die Probe gestellt. Sie haben auch die Märkte herausgefordert, sich stärker mit dem Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu befassen, anstatt sich lediglich auf den Zustand „klimaneutral“ zu konzentrieren. Stichwort Transition. In der Folge wurden neue Regulierungen als realitätsfern und verwirrend in Bezug auf die Ziele Dekarbonisierung und Risikominderung kritisiert.

Unsere sechste und letzte Lektion ist daher: Bei der Regulierung ist ein stärker umfassender Ansatz erforderlich. Einer, der realwirtschaftliche Auswirkungen von Maßnahmen und die künftige ökonomische Widerstandsfähigkeit berücksichtigt. Ein stärkerer Fokus auf den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft könnte ein Eckpfeiler hierfür sein. Um die erforderlichen Investments zu steigern, könnte neben einer nachhaltigen Regulierung eine formelle Anerkennung des Beitrags förderlich sein, den sowohl dieser Übergang als auch ein solides Engagement  –konstruktiv-kritische Begleitung von Unternehmen auf ihrem Klimapfad – leisten können.

 

 

Sogar die USA, ein in Fragen des Klimawandels politisch tief gespaltenes Land, legen das Konzept des Übergangs ihrer Umstellung der Wirtschaft zugrunde. Vielleicht auch als Reaktion auf die Ereignisse in der fernen Ukraine hat die Regierung Biden erfolgreich verschiedene Gesetze mit einem Gesamtvolumen von mehr als einer Billion US-Dollar verabschiedet. Ziel ist die Schaffung eines grünen Stromnetzes und die Subventionierung grüner Technologien. Diese Transformation wird Jahre dauern und Druck auf bestehende Übergangspläne in anderen Regionen ausüben, etwa in der EU und in China.

Ein Fazit, das wir aus den schockierenden Ereignissen, die am 24. Februar 2022 begannen, ziehen können, ist somit: Weltweit werden bestehende Nachhaltigkeitskonzepte in ihrer wirtschaftlichen und politischen Logik verfeinert werden. Denn die Länder und Wirtschaftsblöcke wollen sicherstellen, dass ihre Energiesicherheit enger mit ihren Klimazielen verbunden ist.

Über den Autor: Matt Christensen ist seit gut zwei Jahren Verantwortlich für die Nachhaltigkeit (

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