Herr Compiègne, „Sovereign Sustainability“ bezeichnet die Nachhaltigkeit von Staaten und deren Fähigkeit, ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte langfristig ausgewogen zu gestalten. Inwiefern sollten Anleger Sovereign Sustainability bei ihren Anlageentscheidungen Rechnung tragen?
Vincent Compiègne: Wasserknappheit, Klimawandel, zunehmende Konflikte und Demokratieabbau, Zerstörung von Lebensräumen, Energiepolitik und andere Fragen der Nachhaltigkeit werden zu geopolitischen Brennpunkten. Die Verflechtungen sind stark und komplex.
Nehmen wir zum Beispiel die Automobilindustrie. Die Europäische Union hat vorläufige Zölle eingeführt, um die hiesige Autoindustrie vor unfairen Preisen für subventionierte Elektrofahrzeugimporte aus China zu schützen. Gleichzeitig versucht die EU, die Verbreitung von E-Fahrzeugen zu beschleunigen, um ihre Emissionsziele für 2035 zu erreichen.
Die Analyse von Faktoren wie Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Sozialkapital kann dazu beitragen, Risiken zu erkennen und zu bewerten. So lässt sich beispielsweise eine potenzielle Verschlechterung der Kreditwürdigkeit eines Staates voraussagen – nicht nur aufgrund einer möglichen Zahlungsunfähigkeit, sondern auch aufgrund der potenziellen Unwilligkeit, den Schuldendienst zu leisten.
Welche Veränderungen rund um die Welt haben Sie in letzter Zeit festgestellt?
Vincent: Die bemerkenswertesten Trends sollten niemanden überraschen – wir benötigen keine numerischen Indikatoren, um eine Verschlechterung der Demokratieakzeptanz oder eine Zunahme von Konflikten zu erkennen, da sich diese Entwicklungen in den Nachrichten spiegeln. Dennoch bestätigen nationale Sicherheitsdatentrends und die Indikatoren von Freedom House eine entsprechende Eintrübung.* Angesichts der Verflechtungen zwischen Nationen und Themen ist das Aufschlussreiche an unserem Modell jedoch die Fähigkeit, spezifische Datensätze oder Datengruppen zu isolieren, um profunde Erkenntnisse zu gewinnen. So zeigt unser Modell beispielsweise, dass die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen – trotz häufigem Kostenvorteil gegenüber neuen Kohle- und Gaskraftwerken – nur zögerlich angenommen wird, was oft mit Engpässen in den Verteilungsnetzen in Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand zusammenhängt. Die Länder des Golf-Kooperationsrats hingegen, insbesondere Saudi-Arabien, Bahrain, Oman und Katar, bauen ihre Kapazitäten für erneuerbare Energien aus. Auch wenn deren Gesamtkapazitäten im Vergleich zu anderen Ländern noch niedrig sind, investieren sie erheblich in die Infrastruktur für erneuerbare Energien. Die negativsten Trends zeigen sich in Lateinamerika, vor allem bedingt durch ein schwieriges Geschäftsumfeld und wachsende Risiken, vor allem Naturkatastrophen.
Was unsere Länder-Rangliste betrifft, so waren die größten Verbesserungen in letzter Zeit in wirtschaftlich kleinen Ländern zu verzeichnen, die für Investoren nur von begrenztem Interesse sind. Unter den Ländern, in die investiert werden kann, gab es derweil einige Rückgänge, insbesondere in Frankreich, Saudi-Arabien und Vietnam: Alle drei verzeichnen unter anderem eine Verschlechterung der Sozialkapitalwerte. Indien ist einige Stufen aufgestiegen, was vor allem auf eine bessere Bewertung des Wirtschaftskapitals zurückzuführen ist.
Wodurch unterscheidet sich der Candriam-Ansatz von den Mitbewerbern?
Vincent: Wir sind der Meinung, dass zwei Dinge unser Modell investitionsrelevant und potenziell renditesteigernd für eine Reihe von Anlagesegmenten machen.
Erstens: Da Naturkapital endlich ist, sorgt unsere Berechnung dafür, dass die Gesamtbewertung nicht steigt, wenn wirtschaftliches oder anderes Kapital durch die Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen gesteigert wird. Das bedeutet, dass Naturkapital nicht durch andere Kapitalarten ersetzt werden kann.
Zweitens: Wir passen die Relevanz der Daten an das jeweilige Entwicklungsstadium jeder Nation an. So haben beispielsweise Daten zu Elektrofahrzeugen bei der Bewertung eines Landes wie Norwegen ein deutlich größeres Gewicht, während sie für ein Land wie Uganda weniger aussagekräftig sind, wo Ernährungssicherheit eine wichtigere Rolle für die Nachhaltigkeit spielt. Auf diese Weise können wir Länder direkt miteinander vergleichen, ohne eine willkürliche Unterscheidung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern vorzunehmen.
Durch die Verknüpfung der Wesentlichkeit von Gewichtungen mit der Notwendigkeit, Naturkapital substituieren zu können, kombiniert unser Scoring kurzfristige und langfristige Aspekte. Wir haben seit 2009 eine Ländernachhaltigkeitsanalyse, seit 2017 ein Vier-Kapital-Säulen-Modell und seit 2020 einen Schwerpunkt auf Naturkapital. Mittels Anpassungen und zusätzlichen Indikatoren optimieren wir unser Modell immer weiter. Zu den neuen Metriken, die wir in diesem Jahr hinzugefügt haben, gehören mehrere wasserbezogene Metriken, darunter das landwirtschaftliche Risiko, die Lebensmittelversorgung und die Erschwinglichkeit von Lebensmitteln.
Wie nutzt Candriam das Modell?
Vincent: Wir nutzen unser Modell unter anderem, um zu bestimmen, welche Staaten in unser nachhaltiges Anlageuniversum aufgenommen werden können. Die gängige Meinung ist, dass jede Reduzierung des Anlageuniversums, also die dem Portfoliomanagement zur Verfügung stehenden Auswahlmöglichkeiten, automatisch zu einer geringeren Performance führen. Wir teilen diese Ansicht nicht. Wir sind der Ansicht, dass unsere Reduktionsmethode einige Abwärtsrisiken beseitigen.
Unlängst haben wir unser nachhaltiges Länderanlageuniversum im Vergleich zum breiten JP Morgan Emerging Markets Bond Index Global Diversifed Index (EMBIGD) über die elf Jahre, seit denen wir in einem umfangreichen nachhaltigen Länderuniversum investiert sind (April 2013 bis Juli 2024), einem Backtest unterzogen. Das Ergebnis: Von den 70 im EMBIGD-Index enthaltenen Titeln halten wir aktuell 46 für nachhaltig – zwei Drittel der Werte. Wir haben außerdem festgestellt, dass unser Candriam-Universum für nachhaltige Staatsanleihen aus den Schwellenländern über einen Zeitraum von elf Jahren in etwa die gleiche Performance erzielte wie das größere EMBIGD-Universum, nämlich eine Outperformance von etwa 3 Basispunkten pro Jahr, was statistisch nicht signifikant ist. Es gab keine dramatischen Out- oder Underperformances, wenn der langfristige Zeitraum in jährliche Performances unterteilt wird.
Wie nutzen Sie Ihr Modell für Ihre eigenen Entscheidungen?
Vincent: Wir verwenden das Modell als Ausgangspunkt für weitere Analysen, etwa mit Blick auf Korruption. Auch Engagement wird uns durch die vertieften Erkenntnisse möglich: Während die Zusammenarbeit mit Staaten in der Regel in Form von Engagement-Zusammenschlüssen mit anderen Asset Managern erfolgt, haben wir uns kürzlich direkt und erfolgreich mit der Regierung von Costa Rica über das Thema Geldwäschepolitik unterhalten (Einzelheiten dazu in unserer Fallstudie, Costa Rica – Active Engagement, Mai 2024).
Unser Rahmenwerk ermöglicht es uns auch, einen Faktor zu isolieren und länderübergreifend zu betrachten – etwa Wasserstress.
Warum der Fokus auf Wasser?
Vincent: Der Zustand der globalen Wasserressourcen zählt zu den größten Bedrohungen für eine nachhaltige Entwicklung und das Wohlergehen der Menschheit. Während Treibhausgasemissionen und die globale Erwärmung die bedeutendsten langfristigen Nachhaltigkeitsrisiken darstellen – deren volle Auswirkungen voraussichtlich erst zwischen 2030 und 2050 spürbar werden –, führen regionale Wasserkrisen bereits heute zu erheblichen Beeinträchtigungen und teils katastrophalen Folgen.
Das Thema Wasser umfasst mehrere Dimensionen, darunter die heutige Wasserknappheit, die Anfälligkeit des Wassers für den Klimawandel und die Wasserqualität. Treffen Wasserverschmutzung und Wasserknappheit aufeinander, kann der Zugang zu sauberem Wasser eingeschränkt sein.
Da Nachhaltigkeit ein entscheidender Faktor für Renditen ist, haben wir im Jahr 2023 eine Strategie für wasserbezogene Investments ins Leben gerufen und engagieren uns mit dem Candriam-Institut in Projekten wie Join For Water und WeForest.
* Freedom House, die in den USA ansässige Nichtregierungsorganisation, setzt sich für Demokratie, politische Freiheit und die Wahrung von Menschenrechten weltweit ein. 1941 gegründet, veröffentlicht sie seit 1972 jährlich den Bericht „Freedom in the World“, in dem die politische und zivile Freiheit in fast allen Ländern der Welt bewertet wird.