Digitalisierung der Finanzbranche, Teil 2 Wie die Digitalisierung ganz neue Kundenerlebnisse schafft

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Eine Welt, in der man sich nicht nur das Auto, sondern sogar die Schuhe nach den eigenen Wünschen zusammenstellen kann, steht mit ihrer Betonung auf Individualität im krassen Gegensatz zur Finanzindustrie. Diese ist geprägt von einem starken Trend zur Standardisierung. Diese Vereinheitlichung der Abläufe ist zwar aus regulatorischen Gründen und zum Zwecke der Qualitätssicherung verständlich und bis zu einem gewissen Grad notwendig. Doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Gründe auch gern mal vorgeschoben werden, um zentral den Produktverkauf zu steuern. Einem Kunden, der Maßhemden trägt und in einem selbst konfigurierten Auto vorfährt, muss auch sein Vermögensberater Individualität bieten. Und der Kunde von heute hat ein sehr gutes Gespür dafür, wenn ihm etwas von der Stange angedreht werden soll.

Aus Digitalisierungsperspektive kann man heute beispielsweise mit zielbasierter Finanzplanung ganz persönliche Beratung leisten. Der Kunde kann seine ganz eigenen Wünsche und Ziele darin eingeben und mit Szenarioanalysen und Hochrechnungen im Gespräch mit seinem Berater erkennen, wie sich bestimmte Maßnahmen und Ereignisse auf die Erreichungswahrscheinlichkeit seiner Ziele auswirken. Kann ich mit 60 schon aufhören zu arbeiten? Was ist, wenn meine Tochter im Ausland studieren will? Wie kann ich das finanzieren? Diese und mannigfaltige andere private Ziele können erfasst und durchgespielt werden. Der Kunde muss merken, dass es hier in der Beratung um ihn geht und nicht um das Produkt der Woche. Fühlt er sich als Individuum wahrgenommen und verstanden, kommen die Assets von ganz allein.

Ich bin ein glühender Verfechter der hybriden Beratung. Als solcher bin ich fest davon überzeugt, dass es auch weiterhin den Berater als Menschen geben muss und die zutiefst menschliche Komponente in der Beratung nie aus der Mode kommen wird. Die Finanzindustrie muss aber dem digitalen Trend aus dem Silicon Valley folgen. Amazon, Google und Co. ist es gelungen, sogar rein digital eine Beziehung zum Kunden aufzubauen und ihn eng an sich zu binden. Amazon zieht seine Nutzer jeden Tag tiefer in sein Ökosystem. Diese Unternehmen haben das geschafft, indem sie ihr gesamtes Geschäftsmodell und ihre Software konsequent am Kundenerlebnis ausgerichtet haben. Ihre Websites und Dienste sind intuitiv, transparent, effizient und der Kunde wird zum Beispiel durch personalisierte Werbung individuell angesprochen.

Gerade weil Banken eine so abstrakte Dienstleistung erbringen, müssen sie die Chancen nutzen, die die Digitalisierung für sie bereithält. Richtig gemacht, kann aus dem wenig greifbaren „Sparen“ das ganz konkrete Ziel „Ferienhaus auf Mallorca“ im „Goals Based Financial Planning Tool“ der Bank werden, aus der Aneinanderreihung von Kontoständen ein intuitives Bild von der Vermögenssituation, aus dem Abheften von Depotauszügen ein unterhaltsames Scrollen durch die Finanz-App auf dem Smartphone. Sich mit seinen Finanzen zu befassen muss zu einem angenehmen Erlebnis werden und die Digitalisierung gibt uns die Werkzeuge an die Hand, dies wahr werden zu lassen.

Bisher erschienene Artikel der Serie:

Teil 1 – Was der digitale Wandel dem Private Banker zurückgibt

Über den Autor:
Marco Richter, CFP, Master in Wealth Management, M.A. (EBS) und Buchautor, ist Geschäftsführer Markt und Gründer des Fintechs Wealthpilot. Zuvor war er 20 Jahre unter anderem bei der Deutschen Bank, der Bethmann Bank und zuletzt bei der Commerzbank im Wealth Management beschäftigt. 2017 wurde er mit dem Wissenschaftspreis des Financial Planning Standards Board ausgezeichnet. Im April 2019 erschien sein neues Buch „Du bist reicher als Du denkst“, in dem er über eine „einfache Finanzplanung für Jedermann“ schreibt.

 

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