Europa im Sommer 2012 Erfrischende Klarheit am Rande des Abgrunds

Markus Schuller von Panthera Solutions

Markus Schuller von Panthera Solutions

Am 12. Juni warnte Christine Lagarde, Chefin vom Internationalen Währungsfonds (IWF): Für eine Lösung der Euro‐Krise blieben weniger als 3 Monate Zeit. Sie bezog sich dabei auf George Soros´ „3 Monate“-Warnung vom vorangegangenen f. Juni. Rechnen wir überschlagsmäßig, bleiben gemäß Lagarde noch etwa sechs Wochen bis zum Ende des Euros.

Die Zeit drängt, möchte man meinen. Nicht aber für das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe. Erst am 12. September 2012 wird es über die Eilanträge zu ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und Fiskalpakt entscheiden. Damit verbunden ist eine richtungsweisende Klärung, ob die eigentlichen Klagen gegen ESM und Fiskalpakt Aussicht auf Erfolg haben.

Die Ironie an dem Prozedere: Markt und Brüssel gehen von einer Pro‐Europa-Entscheidung aus und spielen weit darüber hinausgehende europäische Integrationsszenarien durch. So findet sich Karlsruhe in einer Situation wieder, in der ein Ja im September politisch kaum noch Relevanz haben könnte, weil die Regierung selbst bei einem Nein einen anderer Weg zur gleichen Zielerreichung finden muss.

Politiker sind auch nur Menschen

Zu weit lehnten sich Angela Merkel und Wolfgang Schäuble mit ihren Bekenntnissen für eine weitere Integration bereits aus dem Fenster – siehe das Merkel‐Hollande Co‐Statement vom vergangenen Wochenende. Auch SPD und Grüne würden bei einem Karlsruher Nein wohl an einer improvisierten Lösung mitarbeiten. Auch sie stehen mit ihrem Ja zu ESM / Fiskalpakt in der Pflicht.

Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Druck auch emotionale Spuren bei den handelnden Personen hinterlässt. Wie blank die Nerven bei den höchsten Verfassungsorganen Deutschlands liegen, zeichnet Christoph Schwennicke (Cicero) in einem lesenswerten Artikel vom 23.07.

Inkompatibilität

Zusammengefasst zeigt die deutsche Innenpolitik beispielhaft, wie frappierend inkompatibel nationale politische Systeme mit dem globalen Finanzmarkt in ihren Zeitdimensionen und Wirkungsbereichen immer noch sind. Erstaunlich deshalb, weil wir seit dem Lehman‐Trigger Mitte September 2008 aus einer Finanzkrise, einer Staatsschuldenkrise, dann eine Bankenkrise, und nochmals eine Staatsschuldenkrise aufkommen sahen.

Man könnte meinen, in 4 Jahren wäre es politischen Systemen durchaus möglich, sich einer Bewertung des eigenen Beitrags zu den Krisenwellen zu stellen. Denn der kleinste gemeinsame Nenner dieser Wellen ist die zuvor beschriebene Inkompatibilität.

Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass das politische System als primus inter pares aller gesellschaftlichen Subsysteme als Ausgangspunkt der zuvor beschriebenen Krisenwellen fungierte. Ich denke hier beispielhaft an die Deregulierungsmaßnahmen unter US-Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margret Thatcher in den 80er Jahren.

Die sich durchsetzende Einsicht der politisch Handelnden ist wohl der Brisanz der gegenwärtigen Krisenfaktoren zu verdanken. Anders als noch 2008/09 stehen keine einfachen, sprich politisch relativ schmerzlosen Lösungswege zur Verfügung.

Die beiden LTROs (longer-term refinancing operations) gingen auch relativ geräuschlos vor sich, weil die Ausweitung der Bilanzsumme davor, im Vergleich zu anderen Zentralbanken, konservativ vorgenommen wurde, vom Verlust des ehemaligen deutschen Bundesbankpräsidenten Axel Weber und des deutschen EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark einmal abgesehen.

Der Zwang zur Integration wächst

Seit Spanien und Italien Mitte 2011 den Druck des Marktes zu spüren begannen, änderten sich die Parameter des Spiels. Was mit Griechenland Anfang 2010 und Mitte 2011 in den zwei sogenannten Rettungspaketen funktionierte, nämlich die eigenen Volkswirtschaften von einer möglichen Staatspleite Griechenlands zu schützen – vermerkt sind die größten Profiteure der beiden Pakete, nämlich französische und deutsche Banken – funktioniert bei der Größe der beiden Ökonomien nicht mehr.

Erst dadurch begann man zwangsläufig am fundamentalen Krisentreiber – siehe Inkompatibilität – zu arbeiten. Wie passend doch das Winston Churchill zugeschriebene Zitat: „Amerikaner tun am Ende immer das Richtige. Nachdem sie vorher alle anderen Möglichkeiten ausprobiert haben.", derzeit auch auf Europa zutreffen würde.

Diese neuerliche Zuspitzung der Refinanzierungskosten von Spanien und Italien hat etwas Befreiendes. Wenn die Eurozone existieren soll, muss substanziell an der europäischen Integration gearbeitet werden. Spätestens seitdem Moody´s die Rating‐Perspektive von Deutschland, Holland und Luxembourg am 24. Juli auf „Negativ“ stellte, ist auch Berlin die Tragweite klar.

Zwar bewegte sich der Zins von zehnjährigen Bundesanleihen lediglich von 1,24 Prozent auf 1,31 Prozent. Ein Sentimentwechsel bei Investoren sieht anders aus.

Ich machte bereits in meinem letzten Gastbeitrag darauf aufmerksam, dass selbst im Falle einer unwahrscheinlichen Herabstufung die Märkte nicht stark reagieren werden. Und doch fungierte er als Schuss vor den Bug.

Gewonnene Klarheit eröffnet Möglichkeiten

Trotz starker Mittelabflüsse in Spanien, trotz Reformstaus in Griechenland dank zweier Wahlen, trotz sich weiter eintrübender Konjunkturindikatoren in der Eurozone und noch vielem mehr, eines bleibt. Der Marktdruck, verursacht durch die beschriebene Inkompatibilität und ihrer Konsequenzen, könnte rasch abnehmen, wird ein stringenter Lösungsansatz für kurzfristige Liquiditätsbedarfe und die mittelfristige Minimierung der Inkompatibilität vorgelegt.

Der Markt wird wohl die ersten Umsetzungsschritte abwarten, um Gewissheit über die Ernsthaftigkeit der handelnden politischen Akteure zu erlangen – zu viel wurde bereits versprochen und nicht/nur schleppend umgesetzt. Doch wäre der Trend umgekehrt. In einer Welt von epistemologischen Wahrheiten von einer letzten Chance zu sprechen, ist müßig.

Und doch nähert sich Europa einem Punkt, an dem es selbst nach Ausarbeitung des erwähnten Lösungsansatzes zu spät sein könnte, noch eine Umsetzungschance in gegenwärtiger Konstellation zu erhalten.

Die Debatte zum Lösungsansatz

Nun waren die Gipfelbeschlüsse Ende Juni von vielversprechenden Überschriften geprägt. Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu liefern. Merkel pocht mit Recht auf die Verbindung von Geld gegen Mitsprache. Alles andere wäre ein Freibrief für jene Volkswirtschaften, die noch an den offensichtlichsten Strukturreformen zu arbeiten haben.

Ein uneingeschränkter Zugang des ESM zur EZB-Bilanz würde der Verbindung widersprechen. Die Kommission arbeitet eifrig an einer Aktualisierung zum bereits von Barnier vor 2 Jahren ausgearbeiteten Konzept einer Bankenunion. Im September soll vorgetragen werden.

Auch arbeitet die Kommission an einem Konzept zur Re‐Industrialisierung der EU-Mitglieder. Bis 2020 sollen in jedem EU‐Land wieder 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus der Industrie kommen. „Damit würden wir das Steuer herumreißen weg von der Erosion unserer Produktionsgrundlagen, die uns der Innovationsfähigkeit, der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums beraubt", wirbt Kommissar Tajani im Handelsblatt. Ende September ist Abgabetermin für seinen Plan.

Man darf bei allem Krisengeschrei nicht die leisen Töne der Veränderung überhören. So holten die Krisenländer durch die bereits geleisteten Reformen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der Eurozonen‐ Benchmark auf. Selbst Griechenland.

A propos. Griechenland verringerte sein Primärdefizit binnen zwei Jahren von ‐10.4 Prozent auf ‐2.2 Prozent. Und dies während einer anhaltend tiefen Rezession. Beachtlich. Bei all der berechtigten Kritik an der zuweilen trickreichen Taktik griechischer Regierungen, darf auf das Erreichte und seine sozialen Implikationen nicht vergessen werden.

Etwas weniger Schwarz/Weis‐Denken würden Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler und anderen gut anstehen. Die Zentrumsparteien in der Eurozone sind weitgehend pro‐europäisch und suchen gemeinsam nach unorthodoxen Lösungen. Es herrscht zwischen den relativ Ideologie‐befreiten Pragmatikern Merkel, Monti und Hollande ein konstruktiver Ton, den man lange vermisste.

Dass manche aus der FDP, CSU, manche Briten und durchaus noch manche Griechen sich bemüßigt fühlen, mit markigen Sprüchen nationales Kleinholz zu schlagen, ist eher deren Konzeptlosigkeit, denn deren Lösungsverständnis zuzuschreiben. Populismus funktioniert eben nur mittels Simplifizierung von Sachverhalten.

Viel wichtiger. Auf der Suche nach Lösungen wird zuvor Undenkbares plötzlich denkbar. Wer hätte von einem deutschen Finanzminister, mit Blick auf deren regionale und internationale Universalbanken, erwartet, sich eine europäische Version des vormaligen US-Glass‐Steagall-Acts vorstellen zu können. Plötzlich werden Transaktionssteuern auch in nationalen Alleingängen eingeführt – siehe Frankreich mit seiner Light‐Version.

Zusammengefasst: Es ist durchaus realistisch, dass wir in 10 Jahren auf diese Integrationsepisode zurückblicken werden und sie als eine der konstruktivsten in der europäischen Nachkriegsgeschichte einordnen.

Woran muss ein Lösungsansatz gemessen werden?

Treue Leser meiner Gastbeiträge wissen seit geraumer Zeit, dass sich die Lösung für Europa nur durch eine sich vertiefende Integration finden lässt. Im nächsten Beitrag sehen wir uns gegenwärtig diskutierte Lösungsansätze und deren Wirksamkeit an.

Hier nun ein unvollständiger Abriss, welche Eckpunkte eine substanzielle Lösung beinhalten muss. Grundsätzlich wird der Lösungsweg an seiner demokratischen Legitimation in Kombination mit der Effektivität seiner bereitgestellten Mechanismen in deren Anwendung zu bewerten sein.

Welche Mechanismen sollten berücksichtigt werden.

+ Bankenunion: Ziel ist die Trennung von Staatsschulden‐ und Bankenkrise. Die USA weiteten im Zuge des Dodd‐Frank-Acts das funktionstüchtige FDIC Modell auf ihre Großbanken aus. Gleiches muss für zumindest die Eurozone gelten. Gemeinsame Einlagensicherung inklusive.

+ ESM als europäisches IWF‐Äquivalent: Zur Begleitung von nationalen Strukturreformen.

+ Ausgleich der makroökonomischen Ungleichgewichte in EU27: Eine Stärkung der Konsumbasis in den nördlichen / mitteleuropäischen Ländern ist notwendig und bereits im Gange. Siehe die relativ hohen Gehaltsabschlüsse in Deutschland und Österreich.

Impliziert ist auch eine etwas höhere Inflation in diesen Volkswirtschaften. Dieser Anpassungsmechanismus wird selbst seitens der Bundesbank geduldet. Das EZB-Inflationstarget von 2 Prozent als Mittel aller Länder der Eurozone reicht aus. Es läuft auf eine abgeschwächte Version dessen hinaus, was IMFs Blanchard bereits Mitte 2010 mit höheren Inflationstargets von 3‐4 Prozent anregte.

+ Reduktion der Ungleichheiten: In meinen Beiträgen regelmäßig aufgegriffen, nun sich auch verstärkt auf politischen Agenden wiederfindend. Oftmals als linkes Getöse abgetan, kann der negative volkswirtschaftliche Effekt von Extrema in der Vermögensverteilung nicht weiter ignoriert werden – siehe Joseph Stiglitz´ kürzlich erschienenes Buch „The price of inequality“.

Sich mir Kreationisten und Klimawandel‐Ignoranten in Erinnerung rufend, ist das menschliche Bewusstsein zu einer hohen Ignoranz‐Leistung fähig. Und trotzdem darf der Negativeffekt in der Neuorganisation Europas nicht länger ignoriert werden.

Mehr zu den Lösungsansätzen im nächsten Gastbeitrag von Markus Schuller.  

Über den Autor: Markus Schuller ist Gründer von Panthera Solutions, eine Beratungsfirma für strategische Asset Allocation im Fürstentum Monaco. Zuvor war er über zehn Jahre lang als Asset Manager und Produktentwickler bei Banken und Asset Managern tätig. Er kommentiert für diverse Qualitätsmedien den Markt und referiert regelmäßig auf Konferenzen zum Thema Asset Allocation.

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