Ob und wann dies aber der Fall ist, diese Bewertung will der EZB-Rat treffen. Damit hat er sich einen extrem weitgespannten Ermessensspielraum eingeräumt, um eine mögliche Zinserhöhung immer weiter in die Zukunft zu verschieben beziehungsweise zu „verunmöglichen“. Zudem ist bei dieser EZB-Politik damit zu rechnen, dass die Inflation gewollt höher ausfällt als bisher (als die Inflation noch „unter, aber nahe bei 2 Prozent“) liegen sollte. Denn der EZB-Rat lässt fortan ganz bewusst ein Überschreiten der Zielinflation zu.
Sollten noch Zweifel bestanden haben, was gespielt wird, so dürfte nunmehr klar sein, dass die EZB für japanische Zinsverhältnisse sorgen wird, und zwar dauerhaft und nachhaltig: die Zinsen bleiben auf oder werden noch weiter unter die Nulllinie getrieben; und ein Ansteigen der Zinsen wird immer unwahrscheinlicher, je stärker die Verschuldung im Zuge der Null- und Negativzinsen zunimmt. Bei steigender Inflation, mit der im Grunde nun fest zu rechnen ist, sind daher noch höhere Negativzinsen absehbar.
Die EZB wird ihre Anleiheaufkäufe erhöhen, und das bedeutet, dass sie die Zentralbankgeldmenge (soweit Banken die Verkäufer der Schuldpapiere sind) und die Geschäftsbankengeldmenge (soweit Nichtbanken auf der Verkäuferseite stehen) ausweiten wird. Allein deshalb ist das Ansteigen der Güterpreise auf breiter Front im Euroraum quasi vorprogrammiert.
Das Ganze läuft natürlich auf ein betrügerisches Spiel hinaus. Wenn die Menschen erkennen, was die Stunde geschlagen hat - dass die Kaufkraft des Geldes gezielt herabgesetzt werden soll, um die überschuldeten Staaten zu entlasten -, und wenn sie beginnen, aus dem Geld zu fliehen, wird die gesamte Euro-Schuldenpyramide einstürzen. Noch ist es aber wohl noch nicht soweit - die Mehrheit hält weiter an ihren Euro-Guthaben und -Wertpapieren fest; wie lange das so bleiben wird, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen.
Ulrike Kastens, Volkswirtin Europa bei der DWS:
EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte hohe Erwartungen an das heutige geldpolitische Treffen geschürt, und sie hat wieder einmal geliefert. Auf Basis der neuen geldpolitischen Strategie, die am 8. Juli 2021 veröffentlicht wurde, dürften die Geldschleusen der EZB noch für lange Zeit sehr offen bleiben. Die wesentliche Änderung ist dabei der Ausblick auf die Leitzinsen. Die Hürde für Zinserhöhungen wurde nochmals angehoben. Im Rahmen des dreijährigen Projektionszeitraums will sie nun für eine längere Phase Inflationsraten von zwei Prozent sehen, bevor sie über eine Leitzinsänderung nachdenkt. Angesichts einer Inflationsprojektion von 1,4 Prozent für 2023 bleibt es damit wohl eher beim „low for longer“.