Geschafft! Eine letzte Unterschrift und Stefan Bauer bekommt von Herrn König einen dicken Stapel Blätter über den Tisch zurück geschoben mit den Worten „Das wird aber auch immer mehr...“. Sage und schreibe 14 Unterschriften musste Hans-Peter König im Anschluss an das Beratungsgespräch leisten. Im Termin heute kam nämlich zur Geeignetheitserklärung noch der WpHG-Bogen dazu.
Dieser musste erneuert werden, weil durch die positive Börsenentwicklung in den vergangenen drei Jahren die Aktienquote im Depot von Herrn König die vereinbarten maximal 30 Prozent überstiegen hatte. 22 Seiten Formulare und mehr als ein Dutzend Unterschriften - dabei standen beim heutigen Besuch noch nicht mal grundlegende Änderungen der Strategie in der Vermögensanlage oder Ähnliches an.
Stefan Bauer kennt Hans-Peter König sehr gut und betreut ihn seit acht Jahren im Private Banking der Bank. Bei der Unterschriftenorgie, die sich zwangsläufig an praktisch jedes seiner Kundengespräche anschließt, fühlt sich Bauer immer unwohl - selbst bei Kunden wie Herrn König, dessen vollstes Vertrauen er genießt. Denn er hat immer etwas Angst, dass die mit viel Zeit und Mühe geschaffene Nähe und das Vertrauensverhältnis zu seinem Kunden unterminiert werden könnte durch die Masse an Unterschriften, die geleistet werden müssen.
Zwar wird er im Gespräch nicht müde zu betonen, dass die ganze Prozedur eine reine Formalie sei und keine Fallstricke beinhalte. Aber wenn man über ein Dutzend Mal unterschreibt, dass man über alles aufgeklärt und mit allen aufgezählten Punkten einverstanden ist, beschleicht selbst den vertrauensseligsten Kunden das Gefühl, dass er hier eventuell übervorteilt werden könnte. Wozu sonst sollte der Stapel an Formularen notwendig sein?
Stefan Bauer verbringt inzwischen einen Gutteil seiner Arbeitszeit damit, WpHG-Bögen auszufüllen, Geldwäscheschulungen zu absolvieren, Know-your-costumer-Richtlinien zu befolgen, Protokolle seiner Kundentermine zu erstellen und eine aus unerfindlichen Gründen doch noch fehlende Einwilligung nach der DSGVO seinen Kunden abzunötigen.
Das ist zwar alles lästig und zeitaufwendig, aber am meisten schmerzt ihn in seiner Beraterseele, dass auch der direkte Kontakt zu seinen Kunden am Ende aufgrund der Regulatorik einen etwas faden Beigeschmack bekommt. Vor kurzem hat er seiner ältesten Kundin angerufen, um ihr zum 85. Geburtstag zu gratulieren. Selbst dieses Telefonat wurde aufgezeichnet – wie jedes Gespräch eben. Gott sei Dank wird das mit der Telefonanlage der Bank automatisch mitgeschnitten und archiviert.
Sicher geht es nicht nur Stefan Bauer so wie beschrieben. Der Gesetzgeber hat mit seinen Bestrebungen nach mehr Verbraucherschutz (Mifid und DSGVO) leider ein latentes Misstrauen in die Berater-Kunden-Beziehung in der Finanzdienstleistung gepflanzt. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu den Bestrebungen der Berater, als Relationship Manager möglichst vertrauensvoll mit Ihren Kunden zusammenzuarbeiten.
Die Frage ist nun, ob, und falls ja, wie die Digitalisierung in diesem Spannungsfeld helfen kann. Die gute Nachricht voran: aus meiner Sicht, kann die Digitalisierung tatsächlich dazu beitragen, die Beratung freier zu machen und zwar indem sie hilft, die Beratung stärker auf die Vermögensstrukturebene zu verlagern. Die Fesseln der gesetzlichen Vorgaben komplett sprengen kann die Digitalisierung natürlich nicht. Was sie aber sehr wohl kann, ist es interessant zu machen, die Beratung mehrheitlich in den protokollfreien und damit von der Mifid weniger gegängelten Bereich zu verlagern.
Und wenn ich von Digitalisierung spreche, spreche ich hier nicht von den automatisierten Taping-Vorrichtungen in den Geldhäusern und PC-Programmen mit Protokollmasken, die die Berater lückenlos durch das Dickicht an Vorgaben und abzufragenden Punkten leiten. Mir geht es darum deutlich zu machen, dass die echte Digitalisierung das Potential hat, einen generellen Shift hin zu einer ganzheitlichen Beratung weg von der ISIN-Ebene zu ermöglichen.
Denn durch die neuen digitalen Tools wird ganzheitliche Beratung praktikabel und rentabel - und zwar in allen Kundensegmenten. Mit modernen Tools kann über Schnittstellen der Löwenanteil der Vermögenswerte der Kunden ohne großen Aufwand erfasst werden. Bisher war eine Beratung auf Gesamtvermögensebene unattraktiv, da mit zu viel Aufwand verbunden. Und die Vermögenswerte werden nicht mehr einfach nur aufgelistet.
In der neuen digitalen Welt werden die Daten erfasst, analysiert, mit Informationen aus großen Datenbanken veredelt und nach einer für Berater und Kunden verständlichen Logik dargestellt. Mit intuitiven Grafiken und eingängigen Schaubildern. Im ersten Beitrag meiner dreiteiligen Serie beschreibe ich genauer, was diese Software können muss und welchen positiven Effekt die Arbeit auf ganzheitlicher Ebene bei den Finanzberatern hat. Nämlich, dass sie wieder mehr Spaß am Beraten haben und eine vertiefte Beziehung zu ihren Kunden pflegen können.
Befeuert wird der Shift weg vom Produktverkauf durch das Verhalten und die Anforderungen der Kunden. Denn diese wollen nicht mehr den Fonds der Woche verkauft bekommen, sondern eine Beratung erfahren, die ihnen einen echten Mehrwert bietet. Eine Analyse ihres Gesamtvermögens und eine Software, die ihnen diese Analyse eingängig verständlich macht, bieten ihnen einen solchen Mehrwert. Die LGT Private Banking Studie belegt dies: Egal wie alt die Kundschaft ist, alle wollen mehrheitlich digitale Tools. Und sie werden entsprechend gute Angebote mit mehr Loyalität und höheren Assets under Management, die sie auf ihren Berater vereinen, honorieren.
Zahlen aus unserem Haus belegen, dass dies keine Hypothesen sind: Nach unseren Analysen lesen zwei Drittel der Kunden Vermögenswerte von Fremdbanken ein. Und in 89 Prozent der Fälle ermächtigen die Endkunden ihren Berater, der ihnen Wealthpilot zur Verfügung gestellt hat, diese Informationen auch einsehen zu können. Die Freischaltung erfolgt innerhalb der ersten sechs Monate nach Bereitstellung, aus freien Stücken. Einfach weil die Kunden für sich erkennen, dass sie eine bessere Beratung bekommen, wenn ihr Trusted Advisor möglichst viel von ihren Vermögensbestandteilen weiß. Dieser Berater seines Vertrauens hat damit Einsicht auf die Gesamtschau und die Details des Vermögens seines Kunden. Und was sieht er da? Ein riesiges Akquisitions- und Cross-Selling-Potential.
Dieses Potential ist übrigens auch dem Gesetzgeber mit seiner PSD2-Richtlinie zu verdanken. Sie nimmt explizit den Banken die Hoheit über die Daten ihrer Kunden und legt sie die Hände der Kunden. Diese entscheiden künftig, wer welche ihrer Finanzdaten wie verarbeiten darf. Aber sie eröffnet für die Finanzdienstleister, die ein gutes Open-Banking-Tool anbieten, auch viele Möglichkeiten, ihre Umsätze und das von ihnen verwaltete Vermögen zu steigern. Wer sich hier zu spät oder zu unambitioniert positioniert, wird das Nachsehen haben und Kunden und Assets verlieren.
Eine weitere Vorgabe aus Brüssel im Rahmen von Mifid II ist der Ausweis der Produktkosten ex ante und ex post. Der Gesetzgeber hat mit der Kostentransparenz den Druck auf die Finanzdienstleistung weiter erhöht, seinen Kunden ein Angebot zu bieten, das diese zahlungsbereit macht. Aktuell fragt sich so mancher Kunde, wofür er die ausgewiesenen Kosten bezahlt. Im zweiten Teil meiner Artikelreihe habe ich ausführlich dargelegt, dass Kundenerlebnisse zu mehr Zahlungsbereitschaft führen. Laut Forester Research ist diese sogar um den Faktor vier höher. Und der Kunde im Jahr 2019 will vor allem mit digitalen Erlebnissen, die ihm Spaß an seinem Vermögen bieten, begeistert werden. Es ist also auch von dieser Seite betrachtet dringend geboten, sich als Finanzdienstleister der Digitalisierung zu bedienen, um durch die Zwänge der Regulatorik nicht in seiner Existenz bedroht zu werden.
Der Gesetzgeber wird auch zukünftig nicht nachlassen, die Beratung immer mehr in Richtung Ganzheitlichkeit und weg vom provisionsgetriebenen Verkauf zu drängen. Aktuell hat es die Finanzdienstleistungslobby noch geschafft, die Anforderungen an die Qualitätsverbesserung zu verwässern. Folgt man aber der Logik des Gesetzgebers und bedenkt, dass bereits in der jetzigen Richtlinie eine Software als Qualitätsverbesserung ausdrücklich genannt war, die Kontrolle und Überblick über das Gesamtvermögen und Entscheidungshilfe bei Anlageentscheidungen bietet, wage ich zu prophezeien, dass in einer etwaigen verschärften Mifid-III-Richtlinie ein entsprechendes Tool zwingend vorgeschrieben sein wird.
Über den Autor:
Marco Richter, CFP, Master in Wealth Management, M.A. (EBS) und Buchautor, ist Geschäftsführer Markt und Gründer des Fintechs Wealthpilot. Zuvor war er 20 Jahre unter anderem bei der Deutschen Bank, der Bethmann Bank und zuletzt bei der Commerzbank im Wealth Management beschäftigt. 2017 wurde er mit dem Wissenschaftspreis des Financial Planning Standards Board ausgezeichnet. Im April 2019 erschien sein neues Buch „Du bist reicher als Du denkst“, in dem er über eine „einfache Finanzplanung für Jedermann“ schreibt.