Das Ende einer Erfolgsgeschichte? „Die traditionelle Geldpolitik funktioniert nicht mehr“

Alexander Raviol von Lupus alpha (l.) und Mathias Binswanger, Privatdozent an der Universiät St. Gallen

Alexander Raviol von Lupus alpha (l.) und Mathias Binswanger, Privatdozent an der Universiät St. Gallen: Besteht Reformbedarf im Geldsystem und wie könnte der aussehen? Foto: Markus Kirchgessner

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leitwolf: Zentralbanken wie die EZB und die US-Notenbank haben in Reaktion auf Corona ihre ohnehin schon seit der Finanzkrise extrem expansive Geldpolitik nochmals gelockert. Dennoch war eine Inflation lange kaum erkennbar. Ist das vielleicht auch ein Zeichen für Messschwächen und „blinde Flecken“ in der Inflationserhebung?

Mathias Binswanger: In der Tat gibt es erhebliche Messschwächen. Die erste und offensichtlichste ist, dass sich Güter im Zeitverlauf verändern, es also zu Qualitätsveränderungen kommt. Ist das Produkt wirklich besser geworden oder nur teurer? Der zweite Punkt ist: Wo spielt sich Inflation ab? Die Inflation hat sich zunehmend verlagert – weg von Gütern und Dienstleistungen hin zum Finanz- und Immobilienmarkt. Ein anderes Inflationsmaß wäre aber auch keine Lösung. Wir können die Inflation nicht auf einen Index reduzieren. Und Notenbanken müssen verstärkt auch beobachten, was an den Finanz- und Immobilienmärkten geschieht. In der Vergangenheit konnten sie das ignorieren, weil der Zusammenhang zwischen Zunahme der Geldmenge und Zunahme der Güter- und Dienstleistungspreise recht eng war. Das ist heute anders.

So mancher befürchtet, dass unser Geldsystem und die aktuelle Geldpolitik zwangsweise zur Inflation führen. Wie sehen Sie das, und haben die Zentralbanken noch Optionen, dies zu verhindern?

Alexander Raviol: Die Möglichkeiten der Zentralbanken sind tatsächlich sehr limitiert. Die Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Haushalten ist heute enorm hoch. Eine spürbare Zinserhöhung ist dadurch nicht mehr möglich. Sie würde zu einer extrem heftigen Rezession führen. Substanziell höhere Leitzinsen werden wir daher auf lange Zeit nicht sehen. Was die Inflation angeht, hatten wir nach 2008 trotz expansiver Geldpolitik tatsächlich keine nennenswerte Steigerung. Allerdings waren durch die Globalisierung und vor allem durch Chinas wachsende Rolle lange Zeit auch stark deflationäre Kräfte am Werk. Ob das auch für die Zukunft gilt, ist nicht ausgemacht. Man könnte sich vorstellen, dass mit dem Ende der Corona-Krise die gestiegene Notenbankgeldmenge auch tatsächlich in der Wirtschaft ankommt. In den USA deutet sich das bereits an.

Binswanger: Eine Inflation droht meiner Einschätzung nach nicht unbedingt. Dafür müsste die Nachfrage viel schneller ansteigen als das Angebot. Das werden wir aber nicht sehen, denn Unternehmen können ihre Produktion schnell ausweiten. Die Notenbanken können in der Tat die Leitzinsen in nächster Zeit nicht erhöhen. Die traditionelle Geldpolitik funktioniert nicht mehr. Wir leben in einer Art künstlichem Wirtschaftsuniversum mit künstlich niedrigen Zinsen und das dürfte erstmal auch so bleiben. Das Hauptproblem liegt weniger in einer drohenden Inflation bei Gütern und Dienstleistungen. Vielmehr sind den Zentralbanken die Hände gebunden, um spekulative Entwicklungen an der Börse oder auf dem Immobilienmarkt zu bremsen. Denn dafür wären Zinserhöhungen notwendig, die in einigen Ländern sofort zu Krisen führen würden.

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In der Geldtheorie galt lange Milton Friedmans Monetarismus als ehernes Gesetz: „Inflation is always and everywhere a monetary phenomenon“. Hat Friedman ausgedient?

Binswanger: Inflation hat immer etwas zu tun mit der Geldmenge relativ zur Menge der in einer Wirtschaft angebotenen Güter und Dienstleistungen. Ich würde es so formulieren: Eine steigende Geldmenge ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Inflation. Denn Geld kann für ganz unterschiedliche Zwecke verwendet werden. Geld entsteht in unserem System dadurch, dass Geschäftsbanken Kredite vergeben. Dann kommt es darauf an, was mit dem Geld passiert. Es kann für Investitionen in der realen Wirtschaft genutzt werden, sodass mehr Güter und Dienstleistungen entstehen und die Wirtschaft wächst. Es kann für bereits existierende Güter und Dienstleistungen ausgegeben werden, dann kommt es zu Inflation. Oder es fließt in den Finanz- und Immobilienmarkt. Seit den 1980er-Jahren hat die dritte Möglichkeit stark an Gewicht gewonnen.