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Deutschland-AG vor der Wahl Schafft Deutschland die wirtschaftliche Wende?

Warnstreik am VW-Standort im sächsischen Chemnitz

Warnstreik am VW-Standort im sächsischen Chemnitz: Die deutsche Wirtschaft kommt nicht mehr voran und fällt beim Wachstum hinter europäische Volkswirtschaften zurück. Foto: Imago Images / HärtelPRESS

Florence Pisani,
Candriam

Zwischen 2005 und 2017, als in den meisten europäischen Volkswirtschaften die Bedeutung der Industrie zurückging und die Exportmarktanteile sanken, zeichnete sich Deutschland durch eine leistungsstarke Industrie, hohe Marktanteile und einen seriösen Haushalt aus. Während dieser Zeit ist das deutsche BIP laut Eurostat um 10 Prozent schneller gewachsen als das der anderen Länder der Eurozone. Deutschland und sein Sozialmodell der Mitbestimmung gelten seit langem als Vorbild.

Doch bereits Mitte der 2000er-Jahre kamen Fragen über die Zukunft des traditionsreichen rheinischen Kapitalismus auf. Forschungsergebnisse (etwa von F. Pesin und C. Strassel, Le modèle allemand en question, Economica, 2006) waren gravierend: Wirtschaftlicher Erfolg in „trompe-l'œil“, eine Wettbewerbsfähigkeit ohne Wachstum, Schüler, deren Leistungen unter den Durchschnitt der OECD-Länder gefallen sind, ein Ausbildungssystem, das ernsthafte Anzeichen von Schwäche zeigt.

 

Zwanzig Jahre später scheint der Befund noch beunruhigender zu sein. Die deutsche Wirtschaft kommt nicht mehr voran und scheint sich sogar von ihren europäischen Partnern abzukoppeln. Während die meisten Länder der Eurozone heute wieder ihren Wachstumstrend von vor der Covid-Krise erreicht haben, liegt das BIP Deutschlands Eurostat-Daten zufolge mehr als 6 Prozent darunter: Real ist es seit 2019 nicht mehr gewachsen. Der Konsum der privaten Haushalte stagnierte, die Investitionen in Wohnimmobilien sind um 10 Prozent geschrumpft, und obwohl die Investitionen in geistige Eigentumsrechte (R&D) um 10 Prozent stiegen, sanken die Gesamtinvestitionen der Unternehmen um rund 5 Prozent. Der Export, die tragende Säule der deutschen Wirtschaft, steht seit 2017 still. Schlimmer noch: Wie zuvor Italien, Frankreich oder Spanien verliert Deutschland Marktanteile.

Quelle: LSEG Datastream

Industrie in Slow Motion

Als Wachstumsmotor ist die deutsche Industrie ins Stocken geraten. Der Automobilsektor – der fast 5 Prozent des BIP und 16 Prozent der Warenexporte (Eurostat) ausmacht und bereits durch den Dieselgate-Skandal angeschlagen war, sieht sich in Europa mit einer schwachen Nachfrage konfrontiert: Für viele Verbraucher sind die Modelle zu teuer und in den großen Metropolen aufgrund zunehmender Verkehrsbeschränkungen immer unbeliebter. Der Sektor sieht sich außerdem mit einer sinkenden Nachfrage in China und der Konkurrenz durch chinesische Hersteller konfrontiert, deren Preise viel wettbewerbsfähiger sind – und die nun mit den deutschen Herstellern konkurrieren, insbesondere bei E-Autos. Die steigenden Energiepreise haben natürlich nicht geholfen: Seit Anfang 2022 ist die Industrieproduktion in energieintensiven Sektoren – insbesondere der Chemiebranche, die fast 4 Prozent des BIP ausmacht und 17 Prozent der Exporte liefert – um fast 20 Prozent zurückgegangen.

Quelle: Eurostat, Candriam

Dringender Investitionsbedarf

Die Schlussfolgerungen eines aktuellen Berichts des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) fassen die Ratlosigkeit, in der sich die deutsche Industrie befindet, gut zusammen: Ohne eine Investitionsanstrengung von 1.400 Milliarden Euro bis 2030 – ein Betrag, der fast doppelt so hoch ist wie der europäische Plan „Next Generation EU“ – wird es der deutschen Industrie nicht gelingen, wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dieser Alarmruf des BDI, einer Organisation, die traditionell den freien Handel und den freien Wettbewerb befürwortet, ist umso erstaunlicher, als der Bericht vorschlägt, dass ein Drittel der Mittel aus öffentlichen Mitteln bereitgestellt werden sollte. Wird dieser Aufruf zu massiven Investitionen in den nächsten Jahren von den führenden Politikern Deutschlands erhört werden? Werden die Schwierigkeiten seiner Industrie Deutschland dazu bringen, seine Schuldenbremse zu lösen und mehr im Inland zu investieren, um der Volkswirtschaft zu helfen, wieder an Attraktivität zu gewinnen? Die Tatsache, dass Bundeskanzler Olaf Scholz sich vom Finanzminister Christian Lindner getrennt hat, der sich auf die Verteidigung der Schuldenbremse versteifte, könnte darauf hindeuten, dass zumindest ein Teil der politischen Führung in Deutschland in diese Richtung gehen möchte.

Wirtschaftspolitik, ein zentrales Thema bei den nächsten Wahlen?

Sowohl die Bundesbank als auch der Sachverständigenrat (die „Wirtschaftsweisen“) scheinen ebenfalls eine Reform zu befürworten, die die Flexibilität der Haushaltspolitik etwas erhöht, ohne die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zu gefährden. Das Zeitfenster, um dies zu erreichen, ist jedoch eng. Der politische Kurs in Deutschland wird in vorgezogenen Neuwahlen, die für den 23. Februar 2025 angesetzt sind, festgelegt. Jüngsten Umfragen zufolge könnten die FDP, die AfD und die BSW, die sich gegen jegliche Reformen aussprechen, eine Sperrminorität erlangen. Friedrich Merz, Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union (CDU), der derzeitigen Oppositionspartei, ist sich des Risikos bewusst, dass er im neuen Bundestag keine qualifizierte Zweidrittelmehrheit erreichen kann. Er scheint daher zunehmend bereit, noch vor den Wahlen über eine Reform der Schuldenbremse zu diskutieren. Das würde der nächsten Regierung unbestreitbar mehr Luft verschaffen, die den jüngsten Umfragen zufolge von der CDU angeführt werden dürfte. Mit der Aufweichung der Schuldenbremse könnte außerdem verhindert werden, dass eine unnötig restriktive Finanzpolitik die ohnehin schon schwächelnde Wirtschaft weiter belastet.

Es bleibt abzuwarten, ob die Deutschen die nötige Weitsicht haben, Parteien an die Macht zu bringen, die bereit sind, in die materiellen und sozialen Grundlagen zu investieren, die es Deutschland ermöglichen, wieder wettbewerbsfähiger zu werden. Das ist zu wünschen – natürlich für Deutschland, und auch für Europa insgesamt.

 

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