Es war ein viel beachtetes Urteil: Das Landgericht Ulm hat die Klage der Adoptivkinder des Drogeriemarktunternehmers Erwin Müller abgewiesen. Sie hatten sich gegen einen vermeintlich unwirksamen Pflichtteilsverzicht gewehrt – das Landgericht Ulm sah das aber anders. Den Klägern hätte bewusst sein müssen, was ein Pflichtteilsverzicht bedeutet. Eine Täuschung oder gar Sittenwidrigkeit erkannte das Gericht nicht.
Das deutsche Erbrecht sieht Testierfreiheit vor: Jeder kann im Grundsatz frei entscheiden, wem er sein Vermögen hinterlässt. Eine Ausnahme gilt für Personen, die das Gesetz als „pflichtteilsberechtigt“ definiert. Sie haben einen gesetzlichen Anspruch auf einen Mindestanteil am Vermögen. Den haben sie auch dann, wenn sie durch ein Testament oder einen Erbvertrag von der Erbfolge ausgeschlossen wurden. Der Pflichtteil stellt damit sicher, dass Kinder – gleich ob ehelich, nicht ehelich oder adoptiert, Enkel, soweit die Kinder bereits verstorben sind, Ehegatten – nicht aber Geschiedene – oder bei Kinderlosen die Eltern im Erbfall nicht ganz leer ausgehen. Per se nicht pflichtteilsberechtigt sind Geschwister, nicht-eheliche Lebenspartner sowie entferntere Verwandte wie zum Beispiel Onkel, Tanten, Neffen und Nichten.
Die Höhe des Pflichtteils beträgt die Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils. Ein Kind, das nach der gesetzlichen Erbfolge etwa ein Viertel des Nachlasses erhalten würde, bekommt als Pflichtteil also ein Achtel des Nachlasswertes. Bei großen Vermögen geht es somit um stattliche Summen. Wichtig zu wissen: Der Pflichtteil ist ein reiner Geldanspruch. Ein Anspruch auf bestimmte Nachlassgegenstände besteht nicht.
Der Pflichtteilsanspruch müssen Berechtigte aktiv, notfalls durch Klageerhebung, geltend machen. Machen sie das nicht, verjährt er drei Jahre nach Ende des Jahres, in dem der Pflichtteilsberechtigte von dem Erbfall erfahren hat.
Gründe für den Pflichtteilsverzicht
Warum jemand auf seinen Pflichtteil verzichtet, kann unterschiedliche Gründe haben. Häufig verzichten Berechtigte bei einer vorweggenommenen Erbfolge, bei der ein Erbe bereits zu Lebzeiten des Erblassers einen Teil des Vermögens erhält. Der Pflichtteilsverzicht verhindert dann, dass der Verzichtende bei Tod des Erblassers zusätzlich noch den Pflichtteil einfordert.
Auch können durch den Verzicht auf den Pflichtteil spätere Erbstreitigkeiten vermieden werden, weil der Erblasser gleich sicherstellt, dass seine Nachlassregelungen nicht durch Pflichtteilsansprüche durchkreuzt werden. Gerade in Patchwork-Familien mit Kindern aus früheren Beziehungen und gemeinsamen Kindern kann die Nachlassplanung herausfordernd sein. Es kommt bisweilen zum Streit darüber, welche Kinder wie viel vom Nachlass „verdienen“. Ein Pflichtteilsverzicht kann hier klare Verhältnisse schaffen und den Familienfrieden weitgehend wahren.
Eine besondere Rolle spielt der Pflichtteilsverzicht bei der Unternehmensnachfolge. Pflichtteilsansprüche von Personen, die nicht zur Nachfolge berufen sind, können ein Unternehmen finanziell erheblich belasten und schlimmstenfalls seinen Fortbestand gefährden, etwa wenn zur Auszahlung der Pflichtteile betriebsnotwendiges Unternehmensvermögen verkauft werden muss.
Ein spezieller Fall ist das Berliner Testament, in dem sich Ehepartner gegenseitig als Alleinerben einsetzen. Ein Pflichtteilsverzicht der Kinder gegenüber dem Erstversterbenden kann hier sicherstellen, dass der überlebende Ehepartner finanziell abgesichert ist und nicht womöglich in eine Notlage gerät, weil er Pflichtteile an die Kinder auszahlen muss.
Pflichtteilsverzichte werden zudem häufig in Kombination mit einer Erwachsenenadoption erklärt. Bei der Adoption Volljähriger stehen meistens erbrechtliche, namensrechtliche und steuerrechtliche Motive im Vordergrund. Damit derjenige, der adoptiert, in seiner Testierfreiheit nicht eingeschränkt wird, erklärt der die Adoption Annehmende oftmals einen Pflichtteilsverzicht – mit oder auch ohne Gegenleistung. Im letzteren Falle baut der Adoptierte darauf, vom Erblasser dennoch bedacht zu werden. Auch im Falle Müller spielte die Erwachsenenadoption eine Rolle.
Der Pflichtteilsverzicht – oft kombiniert mit einem Erbverzicht, mit dem sämtliche Erbansprüche aufgegeben werden – soll zudem verhindern, dass die Ansprüche leiblicher Kinder geschmälert werden und diese (oder ein Gericht) eine Adoption aus diesem Grund ablehnen.
Zu bedenken ist bei der Erwachsenenadoption auch: Die Verwandtschaft zu den bisherigen Verwandten bleibt erhalten, weshalb Adoptierte mehrere Pflichtteilsansprüche haben können.
Vor- und Nachteile des Pflichtteilsverzichts
Für den Erblasser hat der Pflichtteilsverzicht den wesentlichen Vorteil, dass er volle Testierfreiheit erlangt und seinen Nachlass frei verteilen kann, ohne auf gesetzliche Ansprüche der engsten Verwandten Rücksicht nehmen zu müssen. Das erleichtert die Nachlassabwicklung erheblich, insbesondere können Unternehmen erhalten werden.
Unterzeichnet der Pflichtteilsberechtigte den Verzicht– sofern nicht ausdrücklich nur ein Teilverzicht vereinbart wurde – verliert er vollständig sein gesetzliches Pflichtteilsrecht. Dennoch kann der Verzichtende Erbe werden; denn der Pflichtteilsverzicht entfaltet – anders als ein weitergehender Erbverzicht – seine Wirkung nur, wenn der Erblasser eine weitere Verfügung von Todes wegen errichtet, mit der der Verzichtende beispielsweise durch die Einsetzung anderer Erben enterbt wird.
Abfindung für den Pflichtteilsverzicht
Für den Pflichtteilsverzichtsvertrag muss der Pflichtteilsberechtigte mitwirken. Das klappt mitunter nur, wenn der Erblasser eine Abfindung verspricht. In der Praxis kommt eine Abfindung häufig vor, sie ist aber kein Muss.
Diese Abfindung sollte nicht zu knapp bemessen sein. Jedenfalls dann, wenn ein Erblasser einen späteren Streit über eine mögliche Unwirksamkeit des Pflichtteilsverzichts wegen angeblicher Übervorteilung und Sittenwidrigkeit vermeiden möchte. Der „echte“ Wert eines Pflichtteilsverzichts lässt sich allerdings im Zeitpunkt der Verzichtserklärung nur schwer ermitteln, da der Erblasser noch lebt und sich die Vermögensverhältnisse bis zu seinem Ableben noch erheblich ändern können.
Eine Abfindung kann zivilrechtlich je nach den Umständen als Schenkung gewertet werden. Steuerlich löst die Abfindung Schenkungsteuer aus.
Kein Verzicht zu Lebzeiten ohne Notar
Rechtlich wirksam ist ein Pflichtteilsverzicht zu Lebzeiten des Erblassers nur dann, wenn er notariell beurkundet wurde. Die notarielle Form dient dazu, dass die Beteiligten vom Notar über die Auswirkungen beraten und belehrt, aber auch davon abgehalten werden, die Verzichtserklärung übereilt abzugeben. Die Beurkundung ist mit entsprechenden Notarkosten verbunden, die sich nach der hypothetischen Höhe der Pflichtteile berechnen.
Anfechtung nur im Ausnahmefall möglich
Rückt der Erbfall näher, kommt es durchaus vor, dass sich bei den Pflichtteilsberechtigten ein Sinneswandel einstellt: Hätten sie vielleicht doch lieber nicht verzichten sollen? Die einzige Umkehrmöglichkeit ist dann, den Verzicht anzufechten. Das hat allerdings nur Erfolgsaussichten, wenn die Berechtigten nachweisen können, dass dem Verzicht nur zustimmten, weil sie sich irrten, getäuscht oder bedroht wurden.
Ein Irrtum kann gegeben sein, wenn dem Verzichtenden überhaupt nicht klar war, was er unterzeichnet. Der Fall ist selten, weil im Regelfall der Notar den Verzichtenden detailliert aufklärt. Eine arglistige Täuschung kann vorliegen, wenn dem Pflichtteilsberechtigten verschwiegen wird, auf welches Vermögen er verzichtet. Wer also glaubt, um des lieben Familienfriedens nur auf ein paar Tausend Euro zu verzichten, obwohl es tatsächlich um Millionenbeträge geht, hat bessere Chancen auf eine erfolgreiche Anfechtung. Drohungen sind in der Praxis glücklicherweise selten.
Auch ein sittenwidriger Pflichtteilsverzicht wird als unwirksam betrachtet. Ein Beispiel könnte – wie im Fall der Täuschung – ein sehr krasses Missverhältnis zwischen dem tatsächlich im Raum stehenden Vermögen und der Annahme des Pflichtteilsberechtigten darüber sein. Gegen die guten Sitten verstößt es auch, eine Zwangslage auszunutzen. Beispiel: Der Erblasser speist den Pflichtteilsverzicht des Berechtigten bei einem Millionenerbe mit einer Abfindung von 5.000 Euro ab, die er gerade dringend braucht.
Den Pflichtteilsverzicht anzufechten, ist nur zu Lebzeiten des Erblassers möglich. Ist der Erbfall bereits eingetreten, ist am Pflichtteilsverzicht in der Regel nicht mehr zu rütteln.
Das Fazit
Grundsätzlich ist der Pflichtteilsverzicht ein sinnvolles Instrument für eine individuelle Nachlassgestaltung und um Konflikte unter den Erben zu vermeiden. Die Beteiligten sollten ihn jedoch fair und transparent aushandeln, sodass alle sich der durchaus weitreichenden Konsequenzen des Verzichts auch wirklich bewusst sind.
Über die Gastautoren:
Holger Nemetz ist Rechtsanwalt bei der Kanzlei Menold Bezler in Stuttgart. Er ist seit 2020 in dieser Position für die Kanzlei tätig. Nemetz hat sich auf die Tätigkeitsschwerpunkte Gesellschafts- und Erbrecht spezialisiert und berät zu Unternehmensnachfolge und Vermögen.
Klaus-Dieter Rose ist Rechtsanwalt und Partner bei Menold Bezler in Stuttgart. Tätigkeitsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Erbrecht, aber auch Unternehmens- und Kapitalmarkttransaktionen. Rose berät zu Unternehmens- und Vermögensnachfolge und ist auch Mitglied verschiedener Beiräte und Aufsichtsräte.