Leider funktioniert dies in unserem Staat nicht. Das liegt keineswegs an den Gerichten. Zwar gibt es auch hier das eine oder andere Defizit, zu dem wir noch in den folgenden Kapiteln kommen. Aber es ist unverkennbar, dass zumindest auf Ebene des Bundesfinanzhofes nicht strikt für den Fiskus gedacht, sondern Recht im Interesse der Bürger gesprochen wird. Dies allerdings behindert wiederum die Finanzverwaltung, wenn sie die Steuergesetze in der Art und Weise anwendet, wie sie es für richtig hält.
Gerichte sind nicht Gesetzesanwendungsautomaten, genauso wenig wie Verwaltungen reine Gesetzesausführungsautomaten sind. Gerichte sind vor allem für die Auslegung und Fortentwicklung des Rechts erforderlich. Sie kontrollieren damit als dritte Gewalt im Staat die Exekutive bei der Anwendung der Gesetze.
Und sie identifizieren darüber hinaus die Fälle in der Lebenswirklichkeit, zu denen sich das Gesetz eben nicht eindeutig äußert. Indem sie dabei das bestehende Gesetz, seinen Zweck, seinen Regelungszusammenhang oder die Absicht des Gesetzgebers interpretieren und auslegen, gewinnen sie wichtige praxisrelevante Erkenntnisse darüber, wie der konkrete Fall zu lösen ist.
Zugleich entwickeln sie im Wege der Auslegung das Recht fort. Wenn sich also eine bestimmte Rechtsauffassung in den Urteilen oberster Gerichte wiederholt und damit in der Rechtsprechung etabliert, dann kann es sein, dass diese durch Auslegung gewonnene Rechtsauffassung nicht nur „ständige Rechtsprechung“ wird, sondern auch Eingang in das Gesetz findet.
Die Systematik einer funktionierenden Gewaltenteilung ist: Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung schaffen, praktizieren und sichern Recht und entwickeln es im Zusammenspiel weiter. Es gibt abstrakte Gesetze, die auf Grund des politischen Gestaltungswillens des demokratisch gewählten Gesetzgebers mit einer bestimmten Zielrichtung in Kraft gesetzt wurden.
Diese Gesetze werden dann von der Verwaltung auf den konkreten Einzelfall angewendet. Und im Streitfall stellen die Gerichte fest, wie diese im Zweifel auszulegen sind. Schließlich wird eine Schwelle erreicht, an der der Gesetzgeber die Entwicklung wieder aufgreift und das Gesetz ändert.
Doch die Realität in Deutschland ist, bezogen auf das Steuerrecht, das genaue Gegenteil. Dass der eigentliche Gesetzgeber bei uns im Steuerrecht die Finanzverwaltung ist, haben wir schon dargestellt. Leider werden gleichzeitig auch die Gerichte in der Ausübung ihrer Funktion behindert: dem Überwachen, Auslegen und Fortentwickeln von Gesetzen.
Das allerdings ist – um einen seit der internationalen Finanzkrise in Mode gekommen Begriff zu verwenden – durchaus systemrelevant. Denn mit dieser Funktion der Gerichte steht und fällt das System, in unserem Fall die Demokratie und die Gewaltenteilung.
Wie stellt es nun die Finanzverwaltung an, sich über grundsätzliche Spielregeln hinwegzusetzen? Dazu hat sie im Lauf der Jahre einige sehr wirksame Instrumente entwickelt. Und davon macht sie rigoros Gebrauch.
Die Nichtveröffentlichung oder: Augen zu und durch
Im allerersten Schritt versucht es die Finanzverwaltung mit aussitzen: Einfach noch nicht mal ignorieren und weitermachen, als wäre das Urteil nie ergangen. Wie das geht? Nun, damit die Finanzverwaltung eine in einem Urteil des Bundesfinanzhofes bekundete Rechtsauffassung auch für andere gleichgelagerte Fälle übernimmt genügt es nicht, dass der Bundesfinanzhof seine Urteile veröffentlicht.
Nein, die oberste Instanz eines jeden Finanzbeamten in Sachen Steuern, also das Bundesfinanzministerium, muss das Urteil nochmal in seinem hauseigenen Veröffentlichungsorgan publizieren (und damit quasi formal anerkennen), erst dann existiert das Urteil auch im Kosmos der Finanzverwaltung. Will die Finanzverwaltung also eine höchstrichterliche Entscheidung auf andere Fälle nicht anwenden, dann schaltet sie auf stumm: Sie verschweigt ihren Beamten schlichtweg das BFH-Urteil und verzichtet auf eine Veröffentlichung im Bundessteuerblatt. Das ist gar nicht einmal so selten.