Lehre aus dem Brexit-Referendum Der Weg in die Isolation ist nicht nur für britische Wähler attraktiv

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Es ist nicht das erste Mal, dass Demagogen ihre Wähler zu einem irrsinnigen politischen Kurs verführen. Vor einem Jahr hatte die griechische Regierung unter Alexis Tsipras ein Referendum durchgeführt, mit dem die Wähler Reformverzicht und einen Konfrontationskurs zu den Schuldnernationen bestätigen sollten.

Tsipras gewann zwar die Volksabstimmung, musste aber nach dem dann folgenden Chaos doch die Vorgaben der Kreditgeber im Wesentlichen akzeptieren. Im Ergebnis hat er nicht nur seine Wähler mit falschen Versprechungen getäuscht, sondern auch den Rückstand seines Landes gegenüber dem übrigen Europa (inklusive der anderen Krisenländer) weiter ausgeweitet. Allerdings kann man den Griechen zugute halten, dass sie nach fünf schweren Krisenjahren in einer verzweifelten Situation waren und ein Protestzeichen setzen wollten.

Großbritannien ist aber nicht Griechenland: Die Nation hat eine lange demokratische und rechtsstaatliche Tradition. Sie ist eine der führenden Wirtschaftsmächte dieser Welt, Heimat vieler multinationaler Konzerne und besitzt mit London eines der bedeutendsten Finanzzentren.

Das Wohlstandsniveau ist relativ hoch und liegt mit einem Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 41.200 US-Dollar (2015) 9 Prozent über dem EU-Durchschnitt (zum Vergleich: Pro-Kopf-BIP Griechenland: 26.400 US-Dollar = 70 Prozent des EU-Durchschnitts).

Trotzdem gibt es viele – echte und eingebildete – Missstände, die verbitterte „Wutbürger“ auf den Plan rufen. Und ähnlich wie in Griechenland konnten diese mobilisiert werden, indem die EU zum Sündenbock für Fehlsteuerungen im eigenen Land gemacht wurde. Daher stellen sich die Fragen:

  • Wie kann es sein, dass viele Wähler einer der führenden Wirtschaftsnationen freiwillig für etwas ökonomisch offensichtlich so selbstmörderisches wie den Ausstieg aus der EU votieren?

  • Droht die Wiederholung in anderen Ländern?

Reverse Change statt Embrace Change – das Rad der Geschichte soll zurückgedreht werden

„Embrace Change“ – den Wandel umarmen – lautet das Motto von Silicon Valley, dem Fortschrittszentrum an der US-Westküste. „Reverse Change“ – den Wandel zurückdrehen und zur guten alten Zeit zurückkehren, ist hingegen die Botschaft, die nicht nur die Brexiter antreibt.

Auch die Anhänger von Donald Trump und Bernie Sanders in den USA, die Anhänger von Rechtspopulisten in West- und Osteuropa wie auch neuen linken Protestbewegungen in Südeuropa folgen diesem Motto. Sie haben vor allem ein Ziel: ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel zurückzudrehen.

Es gibt derzeit überall in den westlichen Industrienationen eine hohe Anzahl von Menschen, die sich als Verlierer einer zunehmenden wirtschaftlichen Integration sehen. Sie haben Angst vor der Zukunft und suchen Sündenböcke. Anstatt die Notwendigkeit zur Veränderung zu begreifen, reagieren sie defensiv und wollen Wandel blockieren. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Menschen oft nostalgisch verklärte Vorstellungen einer angeblich „guten, alten Zeit“ haben.

Die Brexit-Bewegung hat die Unzufriedenheit gebündelt

Üblicherweise sind die Unzufriedenen eines Landes zersplittert. Spezifisch an Großbritannien ist, dass die Europäische Union in den vergangenen Jahren zur gemeinsamen Projektionsfläche für den Zorn vieler Wutbürger wurde und sie vereinigt hat. Und hierfür gibt es viele Gründe:

  • Die im EU-Vergleich überdurchschnittliche Wirtschaftskraft führt auch dazu, dass Großbritannien zu den Nettozahlern in der EU gehört. Diese Regelung wird von vielen Briten (und hierzu gehören auch viele grundsätzliche Europa-Befürworter) trotz eines durch Margret Thatcher erkämpften „Briten-Rabatts“ nicht mehr eingesehen. Zum einen glauben sie, dass sie südeuropäische Verschwendungssucht und Brüsseler Bürokratie ungerechtfertigerweise subventionieren.

    Zweitens – und dies ist gerade für ältere Briten viel wichtiger – halten sie Deutschland für den eigentlichen Gewinner der EU. Mit einem kaufkraftadjustierten Pro-Kopf-BIP von 12 Prozent über dem britischen ist Deutschland spürbar wohlhabender. In den Jahren nach der Finanzkrise hat Deutschland den Vorsprung auf Großbritannien weiter ausgebaut, was aber weniger mit deutschen Stärken zu tun hat, als mit der hohen Abhängigkeit der Briten vom Finanzsektor.